„Der Antisemitismus ist auf einem konstant hohen Niveau“Wie sich der Berliner Verein KIgA gegen Judenhass engagiert

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Foto: KIgA e.V.

„Politische Bildung für die Migrationsgesellschaft“ lautet das Motto der „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“ (KIgA). Seit 15 Jahren kümmert sich das Team dabei vornehmlich um die Prävention und die Arbeit mit Jugendlichen, zum Beispiel an Berliner Schulen. Aber auch Erwachsene erreicht der Vorstandsvorsitzende Dervis Hizarci mit seinen Mitarbeiter*innen. Hizarci ist selbst Muslim. Sein Engagement ist für ihn eine Bürgerpflicht – und bestellt einen fruchtbaren Boden: Vor wenigen Tagen wurde KIgA mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet. Monika Herrmann hat mit Dervis Hizarci gesprochen.

Wir treffen Dervis Hizarci, 35 Jahre, in seinem Büro am Kottbusser Damm. Seit vier Jahren schon ist er der Vorstandsvorsitzende von KIgA. Seinen Beruf als Lehrer hat er dafür erstmal aufgegeben. Wenn er mal ein bisschen Zeit hat, spielt er Fußball in der jüdischen Traditionsmannschaft TUS Makkabi in Berlin. Der bekennende Muslim und seine Mitstreiter*innen, Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen, engagieren sich dafür, jüdisches Leben im Bezirk wieder sichtbar zu machen. Sie gehen in Schulen, beraten Politiker, Unternehmer und sprechen mit Nachbarn, die „einfach mal nachdenken und etwas ändern wollen“. Die Arbeit läuft nicht immer ohne Schwierigkeiten ab – die Judenfeindlichkeit im Multikulti-Bezirk Kreuzberg wächst.

Herr Hizarci, wir führen dieses Gespräch zum Thema Antisemitismus in ihrem Kreuzberger Büro. Welche Rolle spielt dieses Problem überhaupt in diesem Multikulti-Bezirk?
Man trifft hier immer wieder auf Antisemitismus. Nicht selten werden jüdische Menschen diskriminiert oder sogar angegriffen. Unser Verein setzt sich konsequent gegen diesen Antisemitismus ein. Und zwar in erster Linie durch Aufklärung. Wir führen viele Gespräche, um Sachverhalte möglichst genau zu verstehen und bieten anschließend zum Beispiel passende Workshops und Fortbildungen an. Gegen Antisemitismus haben wir drei zentrale Zugänge: Bildung, Beratung und Begegnung.

Damit wurde schon vor 15 Jahren begonnen. Es gab also damals bereits Antisemitismus in Berlin?

Ja! Das war die Zeit nach dem 11. September in New York. Damals kursierten viele Verschwörungstheorien, die es ja auch heute noch gibt. Dann folgte der Anschlag auf die Synagoge in Istanbul. Also entschieden sich Aycan Demirel, unser Direktor, und andere, in Berlin etwas gegen den Antisemitismus zu tun.

Was war den „Kreuzbergern“ wichtig?
Es war wichtig, ein Zeichen zu setzen und gegen Antisemitismus aufzustehen. Sich gegen Antisemitismus zu engagieren, ist in meinen Augen eine bürgerliche Pflicht.

So richtig geholfen hat das nicht. Der Antisemitismus wurde dennoch immer stärker.
Ja, es gab antisemitische Schmierereien an Häuserwänden oder auf Schulbänken. Hin und wieder waren auch judenfeindliche Parolen zu hören. Das Erschreckende ist, dass Antisemitismus konstant auf einem hohen Niveau ist.

„ Miteinander zu reden, aufeinander zuzugehen hat sich immer bewährt.“

Auf welche Weise haben sie sich persönlich engagiert?
Muslime und der Islam wurden damals wie heute sehr kritisch gesehen. Ich bin oft mit der Frage konfrontiert worden: „Du als Muslim, was denkst du darüber?“ Man wird einer diffusen Gruppe zugeschrieben und in eine rechtfertigende Position gezwängt. Ich habe dennoch versucht, mit den Menschen zu sprechen. Das war damals oft schwierig, denn häufig gab es keine Bereitschaft dazu. Anfangs war es ein recht einsamer Weg, aber aufzugeben kam für mich nicht in Frage. Auch heute setze ich weiterhin auf Gespräche. Miteinander zu reden, aufeinander zuzugehen, hat sich immer bewährt. Auch in unserer Arbeit im Verein.

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Im Gespräch: Sigmount Königsberg, Antisemitismus Beauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Dr. Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, Dervis Hizarci, Vorstandsvorsitzender KIgA e.V.

Schwerpunkt Bildung

Sie sind seit einigen Jahren der Vorsitzende von KIgA. Erzählen Sie uns doch bitte von der Arbeit.
Unser Schwerpunkt ist Bildungsarbeit. Mit 30 festen und 40 freien Mitarbeiter*innen arbeiten wir besonders im Bereich der Antisemitismus-Prävention. Wir sensibilisieren und sprechen mit Jugendlichen über das Problem – idealerweise bevor es zu Vorfällen kommt. Lehrkräfte in den Schulen tragen Verantwortung, genau zuzuhören und zu intervenieren. Benutzt jemand zum Beispiel „du Jude“ als Schimpfwort, muss die Lehrkraft sofort einschreiten. Eine simple Frage wie „Was hast du gerade gesagt?” zwingt den Schüler, sich mit seiner Aussage auseinanderzusetzen. Er versteht schnell, dass er eine Grenze überschritten hat. In den nächsten Schritten reflektiert er dann seine Äußerung, und es kommt schrittweise zu der Einsicht, dass dies falsch war.

Und dann?
Das ist auch abhängig von den Antworten der Jugendlichen. Existieren Vorurteile über Juden aufgrund von Unkenntnis, dann kann man hier Wissen vermitteln und auch Begegnungen organisieren. Der Besuch von Orten wie dem Jüdischen Museum können hilfreich sein. Manchmal macht es auch Sinn, Juden in die Schule einzuladen, die authentisch über ihr Judentum berichten. Dann merken die Jugendlichen, wie dumm ihre antisemitischen Sprüche eigentlich sind. Sie fangen an nachzudenken und entwickeln sogar Interesse für das Judentum. Es ist wichtig zu wissen, dass man viele Handlungsoptionen hat.

Funktioniert dieses Konzept auch bei Erwachsenen?
Im Großen und Ganzen ja. Die Angebote für Erwachsene sind entsprechend angepasst. Sie sind weniger didaktisch-reduziert und insgesamt komplexer. Hinzu kommt bei Erwachsenen, dass sie anders als Jugendliche teilweise verfestigte Vorurteile haben oder gar geschlossene Weltbilder. Hier braucht es teilweise mehr Zeit und Arbeit.

Um welche Themen geht es in den Bildungsveranstaltungen für Erwachsene?
Sehr oft um politische Ansichten, aber auch um klare Vorurteile gegenüber dem Staat Israel. Eine andere sehr gefährliche Entwicklung ist die zunehmende Erinnerungsabwehr. Diese beiden Phänomene – der israelbezogene und der sekundäre Antisemitismus – sind die mit am häufigsten vorkommenden Erscheinungsformen.

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Foto: KIgA e.V. / Boris Bocheinski

Beratung für alle

Wie können Sie diese Ansichten, vor allem den Hass mit den Menschen besprechen?
Viele Menschen gehen davon aus, dass die Zuwanderung von Geflüchteten den Antisemitismus befördert. Das ist häufig ein Abwehrreflex, um Probleme auf andere („die Muslime“) abzuwälzen. Antisemitische und rassistische Äußerungen bearbeiten wir, indem wir Menschen mit ihren Äußerungen und dahinter liegenden Rassismen konfrontieren, aufklären und Räume für Austausch und Erkenntnis anbieten.

Wer sucht denn überhaupt bei KIgA Rat und Hilfe?
Wir beraten Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft. So bieten wir Hilfe für Lehrkräfte im Umgang mit Antisemitismus im Unterricht an, aber auch für Rektor*innen, die zum Beispiel ihr Schulprofil neu entwickeln und einen Fokus auf Toleranz und Diversität legen. Doch auch Behörden, Verwaltungen, die Polizei oder Politiker kommen mit uns regelmäßig in Kontakt und bilden sich fort, nutzen unser Beratungsangebot oder entwickeln mit uns gemeinsam Möglichkeiten des interkulturellen oder interreligiösen Austauschs.

Sie sehen das Aufstehen gegen Antisemitismus als bürgerliche Tugend.
Ja, das ist mir sehr wichtig. Dass alle Menschen sich positionieren und Haltung zeigen. Kein Mensch, der Zeuge von Antisemitismus in jedweder Form wird, kann sich aus der Verantwortung ziehen. Wir brauchen eine klare Haltung gegen Antisemitismus und eine Stärkung der Zivilcourage in unserer Gesellschaft.

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