Pageturner – Januar 2024: Pop ohne Zombies, Dystopien mit Schlapphut, KI in echtLiteratur von Chrizzi Heinen, William Brandon III und Benjamín Labatut

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Eine After-Work-DJ trifft einen lebensüberdrußgeschädigten Literaturagenten in der Mall: Der Rest ist schon jetzt legendär, und Chrizzi Heinen bleibt eine der wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen der Jetztzeit. Findet Frank Eckert, der für den Jahresbeginn auch die zwei aktuellen Werke von William M. Brandon III empfiehlt. Zwischen L.A. Noire und Y2K entspinnen sich Geschichten, die nachhallen. Derweil rollt Benjamín Labatut die Geschichte der KI literarisch von hinten auf. Mit genau der richtigen Portion historisch-realer Einordnung, die die fiktionale Auseinandersetzung mit der Zukunft bislang vermissen ließ. Auch 2024 turnen wir weiter gemeinsam die eine oder andere Page.

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Tropicalia Passagen (Affiliate-Link)

Chrizzi Heinen – Tropicalia Passagen (Ventil Verlag, 2023)

Dr. Christina M. Heinen – beziehungsweise Céline Lassalle oder auch Chrizzi – ist die ehemals Kölner Multifunktionskünstlerin, die nach Berlin gegangen ist, um Musik zu machen, über Musik zu promovieren, zu malen, einen Verlag für imaginäre Bücher zu gründen und generell halt alles zu können. Sie schreibt selbstredend auch Bücher. Bücher, in denen das Fantastische das Absurde verschluckt, um als 2024er-Update des magischen und magisterischen Realismus, ja sogar Naturalismus wiederaufzuerstehen.

„Ich kann das nicht, ich bin Musikerin“ stimmt dann so nicht wirklich, wenn es ums Schreiben geht. Die eine Erzählerin der „Tropicalia Passagen“ durchschaut das ziemlich schnell, lässt sich aber dennoch davon ärgern, als sie nach einer erstaunlichen, aber komplett nicht-öffentlichen Karriere als Emotionssteuerungs-Genie und After-Work-Party-DJ, die aus den größten Hits der vergangenen Jahrzehnte avancierte und dazu noch höchst emo-funktionale Sound-Art baut, plötzlich von einem gelangweilten lebensüberdrußgeschädigten Literaturagenten und Verlagsangestellten dazu genötigt wird, ein Buch zu schreiben. Was böse hätte enden können, aber anders böse endet – weil da noch ein dritter Erzähler mitmischt, ein eigenkarger und wortbrötlerischer Manufakteur orthopädischer Einlagen. Zusammen kommen sie über merkwürdig lebendige Püppchen am zentralen Ort der spätkapitalistischen Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts: der Mall. Oder eigentlich des Einzelhandel-Einkaufszentrums. Der Vorläuferin der Internet-Kultur also, dem nostalgischen Futur-Zwei-Traum des Vaporwave einer verfallenden, schäbig gewordenen Zukunft aus einer verheißungsvollen Vergangenheit. „Tropicalia Passagen“ halt.

Ist Chrizzi Heinen also der Walter Benjamin der Post-Internet-Art? Nicht nur das, denn ihr Passagenwerk ist ja nun auch eine hübsche Satire auf den hiesigen Literaturbetrieb und eine leicht unheimliche Reflexion über Animismus in der Popkultur (auch so ein dickes Thema kurz vor der Jahrtausendwende). Immerhin braucht es dazu keine Zombies. Die schmutzblinden Flecken und schimmligen Ecken des späteren Spätkapitalismus kommen hier auch so zum Ausdruck. Ein Roman, der sich perfekt für fantasielose Menschen wie mich eignet, denn Fantasie ist hier schon mehr als genügend drin.

William M. Brandon III – Silence & Selene / Eternity (Spaceboy Books, 2023)

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Silence & Selene (Affiliate-Link)

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Eternity (Affiliate-Link)

William M. Brandon III – Silence & Selene / Eternity (Spaceboy Books, 2023)

Die klugen engagierten und manches Mal sarkastischen Dystopien des William Brandon des Dritten gehörten zu den interessantesten Entdeckungen der vergangenen Jahre, die ich in diesem Rahmen vorgestellt habe. Denn näher an eine leider nur zu gut vorstellbare nächstliegende Zukunft kommt sonst kaum jemand. Die beiden jüngsten Bücher Brandons schweifen davon nur leicht inhaltlich ab, Tonfall und Charakter sind sofort wiedererkennbar.

Da wäre einmal die Novelle „Silence & Selene“, die den gewissen Hard Boiled/L.A. Noir-Touch, der auch seine spekulativen Romane auszeichnet, zur Gänze ausspielt. Alles beginnt selbstredend in Los Angeles vor der Jahrtausendwende, könnte aber in vielen Aspekten genauso in den 1940ern spielen, ohne falsch zu wirken. Denn der aus der Zeit gefallene Erzähler hat mit Y2K-Panik und Mobiltelefonie herzlich wenig am Hut. Sogar der obligatorische Nadelstreifenanzug fehlt nicht. Es handelt sich um einen Profikriminellen mit alters- und gewissensbedingten Ausstiegsfantasien. Nachdem ein Bankjob übel eskaliert auf dem Absprung nach Las Vegas, kommt so etwas wie Hoffnung auf, doch Las Vegas hilft nicht gegen das Loch im Herzen. Das hat – wohl auch dem Entstehungsdatum eines Großteils des Textes vor der Jahrtausendwende geschuldet – nicht wenig mit Macker-Romantik unter Whiskey kippenden und Zigarre rauchenden wortkargen Männer-Männern auf der Suche nach Liebe beziehungsweise Erlösung zu tun. Modern ist dabei, dass sich der Held seiner anachronistischen Existenz jederzeit bewusst ist und selbstironisch damit spielen kann. Nur das Loch im Herzen wird in beinahe jedem Kapitel von einer anderen Frau gefüllt, und es endet in jedem Falle tragisch. Was bleibt also, außer die Konsequenzen stoisch in braunen Alkohol zu tränken und ein isoliertes Life-Of-Crime mit absehbar bitterem Ende zu akzeptieren? Zumal wir in Vegas sind, wo der amerikanische Traum typischerweise zum Sterben hingeht – und vorher noch ein bisschen Party macht, Urlaub mit „lots of booze and lots of gambling“.

Als alles klar ausgemalt scheint, passiert dann doch etwas Unerwartetes und Fantastisches. Eine Zeitreise oder eine Halluzination im Schusswunden-Koma? Aber wie kann es sein, dass sich die Zukunft plötzlich auf die Vergangenheit auswirkt statt umgekehrt, wie können die Protagonisten aus der Zukunft im Früher voneinander wissen (oder eher ahnen)? Brandon legt hier einige Spuren ins Fantastische, in zukünftige Bücher (was zum Geier hat es mit dem „Taft Building“ auf sich, und warum steht es an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeitebenen?) und vor allem ins Seltsame, was einigen grimmigen Humor erlaubt. Das ist dann tatsächlich wieder sehr zeitgemäß.

„Eternity“ sammelt eine Handvoll spekulativer, nicht weniger seltsamer (und grimmiger) lose unterschwellig verbundener Kurzgeschichten, und „setzt diese „Collected Warnings“ in einen Rahmen der nicht nur irdischen sondern tatsächlich kosmischen Apokalypse. Was dazwischen und zwischendurch aber gerade auf der Erde passiert, ist mehr als handfest und mehr als realistisch. Die kontemporäre Arbeitswelt, den US-amerikanischen „Prison-Industrial Complex“, globale populistische Politik und radikalisierte Religion hergenommen und nur ganz wenig über die Schwelle zum Irrsinn und Terror gedrückt. Ja eigentlich überhaupt nicht extrapoliert oder zugespitzt. Denn was organisierte, politisierte, radikalisierte Religion anrichten kann, sehen wir leider täglich in den Nachrichten. Und was in den Servern und Call-Centern dieses minimal dystopisch-aufgerauten und angeranzten Los Angeles und Atlanta passiert, ist eben wiederum nur minimal entfernt von unser aller Aktualität, nur in einer hauchdünnen, transparenten Folie abgegrenzt von unserer täglichen Realität. Was passieren könnte (oder beinahe muss), wenn noch mal so ein Präsident an die Schaltstellen der Macht kommt, wenn gut vernetze Religion auf gut vernetzte technologische Innovation trifft. Es sind also Warnungen vor dem, was wir eigentlich nur zu gut wissen, aber im Übermaß gerade nicht mehr hören können (oder wahrhaben wollen). Brandon macht also genau das einzig richtige: wach bleiben, sich noch aufregen können, desillusioniert, aber voller Hoffnung. Nicht aufgeben.

Pageturner Januar 2024 Benjamin Labatut The Maniac Artwork

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Benjamín Labatut – The Maniac (Pushkin Press, 2023)

Wie den Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert die Rationalität abhanden kam beim verzweifelten Versuch, die Welt durch mathematische Abstraktion rationaler zu machen: Der chilenische Autor Benjamín Labatut setzte dieses Wie in seinem Debüt „When We Cease to Understand the World“ in faktensatte Fiktion und fiktionale Biografie, nun aber statt in lose zusammenhängenden Kurzgeschichten in einen epischen episodischen Roman, der die Entwicklung von KI mit der Entwicklung der mathematischen-physikalischen Ethik verbindet – in einer überraschenden Entwicklungslinie dreier Figuren.

Da ist der österreichische Physiker Paul Ehrenfest, der an den Implikation der Quantentheorie und den politischen Entwicklungen der 1930er-Jahre verzweifelte. Und Lee Sedol, der Go-Meister des neunten Dan, der in einer sensationellen Spielreihe gegen die KI AlphaGo verlor. Zentrale Figur dazwischen ist allerdings der ungarische Mathematiker John von Neumann, dessen immenses und vielgestaltiges Werk von der Physik der Atombombe über die ökonomische Spieltheorie, den Grundlagen der KI bis zur Biologie reichten. Im Gegensatz zu der großen Mehrzahl der realen und meist tragischen Figuren, die Labatuts Bücher bevölkern, ist von Neumann allerdings ein Charakter, der von Selbstzweifeln und Gewissensbissen weitgehend frei ist. Das geht soweit, dass er Ende der 1940er-Jahre sogar einen atomaren Präventivschlag gegen die Sowjetunion befürwortet, bevor diese in der Lage wäre, eigene Atomwaffen zu entwickeln. Was von einer ultimativ radikalisierten instrumentellen Vernunft zeugt, von Rationalität, die zur Waffe geworden ist und die von ethischen oder moralischen Implikationen ihrer Erkenntnisse nichts wissen will.

Andererseits ist von Neumann aber jemand, der bereit ist, alles, was er wusste und für richtig hielt, vollständig über den Haufen zu werfen, falls sich eine neue Erkenntnis als plausibler herausstellt. Die alle Konsequenzen ignorierende disruptive Qualität seines Denkens nimmt erst so richtig Fahrt auf, nachdem sein bislang festes mathematisches Weltbild binnen weniger Minuten in Stücke geschlagen wird, als er einen Vortrag Kurt Gödels zu dessen Unabgeschlossenheitstheorem hört. Gödel, selbst eine tragische Figur, die an den eigenen Ansprüchen und Denkmustern verzweifelt ist, wurde dadurch der einzige Mensch auf der Welt, dem von Neumann einen Intellekt zugestand, der seinem eigenen vergleichbar oder überlegen wäre. Die Konsequenzen daraus waren für die Philosophie der Mathematik grunderschütternd (Mathematik muss sich immer und grundsätzlich auf Annahmen verlassen, die ihrer Eigenlogik entkommt, die mit ihren eigenen Mitteln nicht beweisbar ist), für von Neumann allerdings nur ein Grund, sich von der mathematischen Logik als Forschungssubjekt abzuwenden und sich stattdessen auf erfolgversprechendere Problemstellungen auch praktischer Natur zu konzentrieren. Wodurch er innerhalb weniger Jahre nach seiner Emigration in die USA dort in fast jedem militärischen und privatwirtschaftlich geförderten Forschungskommitee saß, am prominentesten als Berater des Manhattan-Projekts. Nebenbei legt er damit das Fundament für robotische Automatisierung, für die künstliche Intelligenz und für die Hard- und Softwarearchitektur, die noch heute in beinahe jedem Computer zu finden ist und erst in jüngerer Zeit wieder neu gedacht wird. Fast alle dieser Ideen, Entwicklungen und Geniestreiche haben sich letztlich als Boxen der Pandora herausgestellt, die einmal auf der Welt ganz ungeahnte Folgen zeigten und mit dem hyperrationalen Kalkül ihrer Entstehung kaum mehr zu tun haben.

Der Roman zeigt auf brillante Weise, dass dies nicht nur mit dem Ausblenden von Konsequenzen zu tun hat sondern mindestens ebenso viel mit Starrsinn, akademischer Eitelkeit, Gruppendruck, Ideologiegläubigkeit und persönlichen Krisen. All die Dinge eben, die in gewöhnlicher Hagiografie gerne ausgeblendet werden: Wer will schon den hässlichen Charakter hinter dem Beautiful Mind sehen? Labatut nutzt dazu eben seine ganz spezielle indirekt fiktionalisierende Erzählweise und verpackt diese in einen süffigen und zu Recht preisgekrönten Science-Thriller, der (ebenfalls mit allem Recht) ein globaler Beststeller werden sollte, ja müsste.

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