Plattenkritik: Karate – Time Expired (Numero Group)Die eigene Geschichte konsolidieren

Karate Time Expired Start

Für Ji-Hun Kim sind Karate seit 25 Jahren eine der wichtigsten und besten Bands der Welt. Gerade im elektronisch geprägten Berlin war er mit dieser Meinung nicht selten ein einsamer Mensch. Nach 17 Jahren Pause fanden sich Karate im vergangenen Jahr überraschenderweise wieder zusammen. Fingen aber erstmal damit an, ihre eigene Geschichte in Ton retrospektiv neu zu veröffentlichen.

Die Bostoner Band Karate genoss bei uns damals Ende der 90er und Anfang des Jahrhunderts Legendenstatus. Wie keine andere Band schafften sie aus Indie, Post-Hardcore und vor allem Jazz einen einmalig klugen und gefühlvollen Sound. Dabei handelte es sich auch immer um große Songs. Karate erging es indes wie vielen anderen Gitarrenbands aus jener Zeit – sie verschwanden plötzlich von der Bildfläche. Im Falle dieser Band – bestehend aus Geoff Farina, Eamon Vitt, Garreth McCarthy und Jeff Goddard – war das im Jahr 2005. Als kaum jemand mehr Interesse an intelligentem Rock aus den früheren Jahren hatte. Und erschwerend hinzukam, dass Sänger und Gitarrist Geoff Farina ernsthafte Probleme mit seinen Ohren bekam und es 17 Jahre still um eine der für mich besten Bands aller Zeiten wurde. Auch als der Erfolg der Streaming-Dienste losging, fanden die Alben von Karate nicht statt. Für mich waren Karate auch immer das beste Beispiel dafür, dass bei Spotify und Co. eben nicht jede Musik der Welt zu finden ist. Ich freute mich, einige der Alben auf Vinyl zu haben und habe das Hören im Laufe der Jahre umso mehr genossen. Mit Menschen darüber zu sprechen, die Karate nicht kannten, wurde aber umso schwieriger. Mich beschlich das traurige Gefühl, dass die omnipräsente Verfügbarkeit von Musik und Archiven auch zunehmend zu Zuspitzungen im Sinne des Mainstreams und enorm vielen Ausblendungen führte und noch immer führt.

Dass die Musik von Karate im Netz nicht zu hören war, hatte wohl vor allem mit dem Label Southern Records zu tun, die offenbar die Rechte nicht rausrückten und dem im Nachhinein viel unlauteres Verhalten nachgesagt wird. Seit dem letzten Jahr werden aber die Alben über das Label Numero Group Stück für Stück wieder aufgelegt und sind nun auch via Stream endlich verfügbar. Karate spielen seit letzten Jahr auch wieder live, haben sich neu zusammengefunden, und für dieses Jahr stehen Gigs unter anderem auf dem Festival Primavera an. Sichtlich ergraut – aber es scheint dieser Jahre eine gute Zeit, nahezu vergessene Heroen aus den 90ern wieder bzw. neu zu entdecken. Nicht nur weil Indie generell eine Blütezeit erlebt, und jüngere Bands und Fans feststellen, dass Bandmusik aus den 90ern nicht nur aus Nirvana, Red Hot Chili Peppers, Radiohead und Metallica bestand – und die frühere Fangemeinde sich eben nicht so einfach losschütteln lässt. Mir wie vielen anderen ist das aber auch ein Zeichen, dass man eben ums Verrecken nicht jünger wird. Aber es wird einem auch von Jahr zu Jahr egaler.

Vor kurzem erschien die Compilation „Time Expired“. Es ist kein Best-of-Album im klassischen Sinn, sondern eine Fünffach-Vinyl-Box bestehend aus den Alben „Unsolved“ (2000), „Some Boots“ (2002), „Pockets“ (2004) und der EP „Cancel/Sing“ von 2001, die in diesem Konvolut erstmalig auf Schallplatte erscheint. Interessant, dass die Band ihre Geschichte quasi nicht von Beginn an erzählt, sondern eben mit den letzten drei Alben. Außer ein paar unveröffentlichten Proberaumaufnahmen gibt es auch kein neues Material. Vielmehr wird ein volatiles Erbe konsolidiert. Und es fühlt sich auch weitaus weniger als eigene Beweihräucherung an, als vielmehr eine Vergewisserung, die äußert: Ja, da war doch was und eigentlich hat das auch heute noch mehr als eine Berechtigung. So retrospektiv der Titel gewählt sein mag, auch die abgelaufene Parkuhr, die man Kindern heute mühsam erklären müsste, dass diese damals noch das Stadtbild geprägt haben, und wofür die da gewesen sind. Es ist ein Stück weit kokett, aber auch reflektiert, weil: Karate werden wohl kein großes Revival mehr feiern wie Slowdive. Dafür waren sie damals schon zu Indie und unbekannt – wahrscheinlich auch einfach zu gut. Wie einfühlsam, virtuos, minimalistisch dynamisch und große Welten schaffend Bands aber in der Lage sind, das zeigen die drei Alben im Zusammenhang gut. Außerdem besteht nun die Zeit und Möglichkeit die großartigen frühen Alben „Karate“ (1995), „The Place of Real Insight“ (1997) und „The Bed is in the Ocean“ (1998) auf den großen Plattformen zu hören. Mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung hat dieses Werk zweifelsohne verdient. Für diese grandiose Musik ist die Zeit nämlich alles andere als abgelaufen – wird sie auch nicht.

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