Rewind: Klassiker, neu gehörtDepeche Mode – Violator (1990)

Rewind Violator lede

Am 19. März 1990 erschien „Violator“, das siebte Studioalbum von Depeche Mode. Die LP gilt heute als Meilenstein einer Band, die wenige Jahre zuvor mit „Music For The Masses“ endgültig zu einer festen Größe der Popmusik geworden war. Meilenstein? Klar, mit „Enjoy The Silence“ findet sich auf dieser Platte der wahrscheinlich größte Hit aller Zeiten von Martin Gore, Dave Gahan, Andrew Fletcher und Alan Wilder. Und bei Fans und Audio-Fetischisten gleichermaßen gelten die neun Tracks als bis ins letzte Detail ausgearbeitete Klangperfektion. Mit Flood als Produzent und François Kevorkian für den Mix hatte die Band zwei Ikonen verpflichtet. „Violator“ gilt heute aber auch als Zäsur in der Geschichte der Band. Neue musikalische Einflüsse und ein drogenabhängiger Sänger veränderten den Sound. Wird „Violator“ heute, 30 Jahre später, den Lorbeeren von damals noch gerecht? „All I Ever Wanted, All I Ever Needed, Is Here In My Arms“ also? Christian Blumberg und Thaddeus Herrmann haben das Album gehört.

Christian: Würden wir heute nicht hier sitzen, ich hätte mir „Violator“ vielleicht nie angehört. Die Rollen für unser Gespräch sind also klar verteilt: Du bist der Experte, ich stelle die dummen Fragen. Dumme Frage Nummer 1: Für mich besteht das Werk von Depeche Mode aus einer sehr, wirklich sehr langen Reihe von Singles. Sind Depeche Mode überhaupt eine Album-Band?

Thaddeus: Definitiv ja, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, bzw. mit unterschiedlichem Erfolg. Im Ganzen betrachtet aber ja. Die Singles sind die Singles, die Hits die Hits. Natürlich sind das mit in der Öffentlichkeit und breiten Masse prägenden Momente, die der Band zu ihrem heutigen Status verholfen haben – Gassenhauer eben. Aber es gibt auf den Alben auch immer noch andere Tracks, die es verdient hätten, ein Video zu bekommen. Dazu kommt, dass viele der LPs aufwändig sequenziert und mit Übergängen versehen sind. Das ist schon ein bisschen Storytelling. Bei „Violator“ ist das nun gerade nicht der Fall. Dafür ist es aber das meiner Meinung nach am besten produzierte Album der Band. Sound- und Mix-technisch.

Christian: Im Gegensatz zu „Music For The Masses“ – welches ich bis letzte Woche ebenfalls noch nie gehört hatte – klang „Violator“ organischer. Da gibt es nicht nur Gitarren, sondern auch mehr Dynamik, zum Beispiel in den String-Pads, die hier so zu schwellen anfangen. Da formuliert sich diese epische Großraum-Logik der Band noch mal anders, ausgefeilter. Gab es eigentlich unter DM-Fans Anhänger*innen der reinen Synth-Pop-Lehre, die dann echt sauer waren, weil plötzlich Bluesrock-Riffs auftauchten wie in „Personal Jesus“? Oder sind Depeche Mode für dieses Denken schon immer die falsche Band gewesen?

„Es gibt immer wieder Brüche in der Band-Geschichte.“

Thaddeus: Na klar war das ein Thema. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Aus heutiger Sicht jedoch muss man ja festhalten, dass sich der Sound der Band über Jahre in eher kleinen Schritten transformiert und geöffnet hat, nachdem sie aus den Teenie-Schühchen rausgewachsen war. Diese Phase dauerte ja auch nur ein Album lang, auch wenn auf „A Broken Frame“ – dem zweiten Album – das noch durchschimmerte. Aber: Hier kam eine Art Dub dazu, gepaart mit der hier noch schwach ausgeprägten Darkness, die ja allgemein mit dem Songwriter Martin Gore assoziiert wird. Auf „Construction Time Again“ begann das Sampling und die „Klangkunst“, wobei ich die Anführungszeichen hier ganz bewusst setzte. „Some Great Reward“ war dann laut und krachig auf den Singles, „Black Celebration“ im Ganzen eher still und „Music For The Masses“ schließlich endgültig massenkompatibel, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich denke, es kommt bei Depeche Mode immer darauf an, in welcher Entwicklungsphase der Band, man als Fan eingestiegen ist. Welche Songs einen als erstes geprägt haben. Ich kann mir vorstellen, dass viele Fans des ersten Albums – mit „Just Can’t Get Enough“ oder „What’s Your Name?“ – nur zwei Jahre später Stücke wie „Pipeline“ überhaupt nicht gut fanden. Es gibt immer wieder Brüche in der Bandgeschichte. Was viele bei „Personal Jesus“, der ersten Single von „Violator“, eher irritiert hat: Es kam so komisch „rockig“ daher. Das war eher eine Style-Frage als Protest gegen die Gitarre als Instrument. Aber DM-Fans verzeihen halt auch viel. Ich kann mich jedenfalls genau entsinnen, dass ich das Album am Anfang gar nicht gut fand – aus ganz anderen Gründen. Mir waren viele Sounds zu „Techno“. Und Techno mochte ich damals gar nicht.

Depeche Mode Portrait 1990

Alle Band-Fotos: Anton Corbijn – via depechemode.com

Christian Dabei war die Band ja schon immer gut im Integrieren von Styles. Auf den Alben vor „Violator“ gab es zwar keine bzw. viel weniger Gitarren, aber das heißt ja nicht, dass Depeche Mode auf der Bühne wie Kraftwerk performten. Dave Gahan war schon immer ein Rockstar, mit Posen, Pirouetten, großen Gesten.

Thaddeus: Unbedingt. Das war immer der Widerspruch, irgendwie hat es aber funktioniert und war auch dafür verantwortlich, dass die Band so erfolgreich wurde. Bei Gahan hat sich irgendwann ein Schalter umgelegt. Er wurde zum Rockstar, inklusive aller Klischees und dem Machismo. Martin Gore als Lead-Sänger hätte eine ganz andere Karriere befördert. Aber zurück zum „Techno-Vorwurf“. Mich haben damals vor allem viele Beats irritiert. Die waren mir ganz ehrlich ein bisschen zu modern und anbiedernd. Diese breiten Snares bei „Enjoy The Silence“, der Breakbeat, das „Modern-Synthetische“, damit kam ich nicht so recht klar.

Christian Anbiedernd zum Beispiel an wen oder was? Wer klang denn damals wie „Violator“?

Thaddeus: Anders. Ich fand, dass DM Elemente vom Dancefloor übernahmen. Und dieser Dancefloor war nicht meiner. Ich hatte noch keine Ahnung von Techno und House und hörte nur diese Sounds, die auch in dem ganzen 4/4-Charts-Quatsch vorkamen. Und das wollte ich nicht. Das klang für mich wie das Ende einer Ära. Dauerte zum Glück nicht lang, dieses Gefühl.

Martin Gore 1990

Martin Gore

Dave Gahan 1990

Dave Gahan

Andrew Fletcher 1990

Andrew Fletcher

Alan Wilder 1990

Alan Wilder

Christian Für mich klingt das Album wie eines, das irgendwie alles will. Es klingt auch irre kalkuliert, aber auf eine sehr okaye Weise. Es leuchtet jedenfalls sofort ein, warum das so erfolgreich war: Es war einfach darauf angelegt. Aber im Gegensatz zu vielen kanonischen Alben, die gemeinhin so als Klassiker gelten – lass uns das mal lieber nicht definieren hier –, fehlt der Platte dieses gewisse Momentum. Also dass es zum Beispiel soundästhetisch eine neue Strömung einfängt und sie dann in den großen Pop-Zirkus trägt. Oder dass es ein zeitgeistiges, ein 1990-Gefühl perfekt formuliert. Oder täusche ich mich?

„Hier verschwinden keine Details im Hall, es ist alles präsent und steht für sich. Man kann das natürlich dennoch cheesy finden – ist es ja auch irgendwie –, aber ich verstehe heute gut, warum das Album als Meisterwerk in der Band-Geschichte gilt.“

Thaddeus: Ich höre das Album heute eher als Zuspitzung eines Sounds, dem die Band – oder besser die Produzenten – mit den Jahren immer wieder neue Akzente und Nuancen hinzugefügt haben. Zeitgeistig klingt es wirklich nicht, vielleicht abgesehen von den Beats, die ich schon erwähnt habe. Zunächst sind die Songs großartig und auch von gleichbleibenderer Qualität im Vergleich zum Vorgänger. Und dann ist es vor allem die Produktion, die die Platte heute immer noch so frisch und eben nicht zeitgeistig, sondern zeitlos klingen lässt. Ich weiß ja nicht, wie du das empfindest. Aber als ich mit dem Kollegen Raabenstein „Music For The Masses“ nachhörte, merkte ich, wie angestaubt diese Platte über weite Strecken aus heutiger Sicht klingt. Hier ist das nicht so. Es ist alles wahnsinnig gut ausbalanciert und rund. Einer der besten Producer-Jobs von Flood überhaupt. Wie das alles kickt und drückt und gleichzeitig schwebt. Und dass François Kevorkian gemixt hat, hilft natürlich auch. Hier verschwinden keine Details im Hall, es ist alles präsent und steht für sich. Man kann das natürlich dennoch cheesy finden – ist es ja auch irgendwie –, aber ich verstehe heute gut, warum das Album als Meisterwerk in der Band-Geschichte gilt. Und: Es war ja auch eine Art Abschluss. Denn der Rock kam ja erst danach richtig durch.

Christian: „Enjoy The Silence“ ist ja nicht nur ein guter Popsong, sondern eben wegen dieser Produktion einfach so etwas wie die perfekte Radio-Single. Wahrscheinlich läuft das heute noch im Radio, jedenfalls könnte es das. Ich habe mir noch die Version angehört, die Martin Gore eigentlich wollte. Ein Harmonium, Gore singt. Gleicher Song, aber die Gore-Version hat dann etwas sehr Zeitspezifisches. Haben die schon richtig gemacht.

Thaddeus: Kennst du die Videos zu diesem Thema?

Christian: Nee.

Thaddeus: Wir schauen mal kurz rein.

Produzent Flood über die Entstehung von „Enjoy The Silence“ beim Short-Circuit-Festival in London, 2011.

Thaddeus: Es scheint tatsächlich ein Kampf gewesen zu sein, Gore davon zu überzeugen, aus der Ballade einen Upbeat-Popsong zu machen. Er wollte das einfach nicht. Ließ sich aber schlussendlich überzeugen und spielte die Gitarre dazu.

Christian: Es ist aber auch bezeichnend, dass Gore die Pop-Version zwar nicht will, aber trotzdem diese Gitarre einspielt, ohne die der Song ja nur halb so gut wäre. Ich hätte an seiner Stelle einfach irgendwas dazu gespielt, was die Nummer nicht auch noch besser gemacht hätte. Aber Depeche Mode sind halt Pros.

Thaddeus: Die sich im Studio auch immer haben sagen lassen, was gut ist und was nicht. Natürlich hatten sie mit Alan Wilder zu dieser Zeit einen wirklichen Pro mit dabei, jemand mit Expertise und Vision. Gore allein hätte wahrscheinlich einfach weiter seine Schrammel-Demos abgeliefert und auf Tape veröffentlicht. Der braucht schon Führung. Aber so: Hit fertig. Ich kann das ja heute nicht mehr hören, muss ich sagen. Overflow. Aber die restlichen Songs passen mir auch heute noch in den Kram. Auch wenn es mein Lieblings-Track aus dieser Periode gar nicht auf das eigentliche Album geschafft hat. Das ist nämlich „Dangerous“, die B-Seite von „Personal Jesus“.

Christian: Totaler Fan-Move natürlich, dass Du jetzt hier die B-Seiten auspackst. Aber Depeche Mode sind doch eine A-Seiten-Band, oder?

Thaddeus: Das ist die Singles-Frage, nur anders formuliert. Stimmt schon, aber eben auch nicht. Die B-Seiten fügten dem Band-Sound der jeweiligen Epoche immer ganz wichtige Komponenten hinzu. Weirde Instrumentals, verschrobene Songs. In der Summe reicht das schon für eine hübsche Perlenkette.

Christian: Jetzt noch eine dumme Frage. Wovon genau ist man Fan, wenn man DM-Fan ist? Mir erschließt sich das nicht ganz. Super Songwriting, super Arrangements, Balance, Riecher, ja, okay, alles. Aber worüber funktioniert die persönliche Bindung?

Thaddeus: Eigentlich reichen die Argumente, die du aufzählst, ja schon. Mir hat die Band zur richtigen Zeit die richtigen Songs hingeworfen. Ich kann nur vermuten, was mich daran so sehr fasziniert hat, dass ich ihnen ja selbst heute noch irgendwie die Stange halte. Der erste Song, an den ich mich aktiv erinnere, war „People Are People“. Ich hatte keine Ahnung, wer das war, hörte das aber ständig im Fernsehen, der Track war der Opener des morgendlichen Olympiade-Magazins in der ARD. Die fand damals ja in L.A. statt, also schlief ich als 12-Jähriger. Morgens aufstehen, Fernseher an und „People Are People“ hören. Das hat wohl Eindruck hinterlassen. Hat Klick gemacht. Und dann bin ich dabei geblieben. Mitgehört, nachgehört, auf Konzerte gegangen.

Christian: Ich habe mich ja ein bisschen vorbereitet, und bin dabei immer wieder auf die Figur Dave Gahan gestoßen. Der immer als großer Charismatiker beschrieben wird. Da fallen dann huldvolle Vokabeln und interessanterweise auch oft die Gleichen: Zum Beispiel Gahan, der Schamane. Dann gibt es noch Gahan, den Dandy und Gahan, den Jesus. Es ist aber nicht einfach Jesus oder ein Schamane zu sein, wenn du „Just Can’t Get Enough“ performst. Mit späteren DM-Songs geht das bestimmt deutlich besser. Ich habe mich also gefragt, ob „Violator“ Gahan sozusagen den musikalischen Teppich ausgerollt hat, um diese Persona zu entwickeln.

Thaddeus: Ich würde das eher an bestimmten Songs festmachen, als an einem Album. „A Question Of Time“ oder „Never Let Me Down Again“ sind zum Beispiel solche Tracks, und natürlich auch „Personal Jesus“. Dass er sich mit zunehmender Rampensau-Mentalität auch vermehrt für Rockmusik interessierte, ist ja gut dokumentiert. Und bricht sich dann auf dem Folge-Album „Songs Of Faith And Devotion“ so richtig Bahn. Auch dank des Heroins natürlich. Ich weiß wirklich auch nicht, wer die Synthesizer als Basis des Band-Sounds so lange aufrecht erhalten hat. Mir scheint aber, dass alle gemeinsam nach „Violator“ keine Lust mehr hatten, noch eine fast vollständig elektronische Platte zu machen. Was mich auch nicht überrascht, denn an Style ist die ja kaum noch zu überbieten.

Christian: Eigentlich war everything Synth-Pop ja 1990 auch schon vorbei.

Thaddeus: Aber ja. Es war ja auch schon lange kein Synth-Pop mehr. Das ist natürlich immer Definitionssache, für mich war der Synth Pop bei DM aber schon mit dem zweiten Album ad Acta gelegt. Pop ja, dezidierter Synth-Pop nein.

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