Familie 2.0Filmkritik: „Shoplifters“ von Hirokazu Kore-eda

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Alle Fotos: © WILD BUNCH GERMANY

An den Weihnachtstagen wird es vielen einmal mehr deutlich geworden sein: Seine Familie sucht man sich nicht aus. Der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda entwirft in seinem neuen Film „Shoplifters“ einen Gegenentwurf zum klassischen Familienbild. Eine Kritik von Tim Schenkl.

Was verbindet Menschen? Dies ist die Frage, der Hirokazu Kore-eda in seinem neuen Film Shoplifters, der in Deutschland den Untertitel „Familienbande“ verpasst bekommen hat, nachgeht. Beim Festival in Cannes 2018 gewann der japanische Regisseur die Goldene Palme, und auch bei den Oscars in der Kategorie bester fremdsprachiger Film wird Shoplifters mit großer Wahrscheinlichkeit für Japan ins Rennen gehen. Große Filme, große Fragen, große Gesten? Weit gefehlt. Hirokazu Kore-eda wählt für Shoplifters die induktive Methode: Er konzentriert sich auf das Kleine, das Profane, auf scheinbare Nebensächlichkeiten und kaum wahrnehmbare Regungen. Und versucht, daraus allgemein gültige Erkenntnisse, wenn es diese denn überhaupt gibt, zu extrahieren.

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Partners in Crime

Zu Beginn des Films betreten Osamu (Lily Franky) und Shota (Kairi Jyo) einen Supermarkt. Der Mann und der Junge scheinen vertraut, was dadurch unterstrichen wird, dass sie fast komplett non-verbal kommunizieren. Ein Handzeichen von Osamu reicht aus, und Shota weiß sofort, was zu tun ist. Zu den Klängen eines Jazzpianos gleiten die beiden elegant durch die Regalreihen, verlieren sich kurz, synchronisieren sich dann wieder. Der Zuschauer wohnt einem geradezu rituellen Tanz bei, währenddessen Shota geschickt Gegenstände aus den Regalen in seinen Rucksack gleiten lässt. Das Ziel des Supermarktbesuchs der beiden ist nicht der wöchentliche Lebensmitteleinkauf: Wir sehen zwei professionelle Ladendiebe bei der Arbeit.

Später auf dem Weg zum gemeinsamen Zuhause treffen die beiden auf die kleine Yuri (Miyu Sasaki), die von ihren Eltern im vorweihnachtlichen Tokyo allein auf dem Balkon gelassen wurde. Kurzerhand nehmen sie die Vierjährige zu einem gemeinsamen Abendessen im Kreis ihrer Hausgemeinschaft mit. Diese besteht aus Osamus Partnerin Nobuyo (Sakura Andô), der Oma Hatsue (Kilin Kiki) und Aki (Mayu Matsuoka), einer jungen Frau, die in einer recht züchtigen japanischen Peepshow arbeitet, in der einsame Seelen ein wenig menschliche Zuwendung erhalten.
Nach dem Essen wollen Osamu und Nobuyo Yuri, deren Körper Misshandlungsspuren aufweist, zurückbringen, doch sie rücken von ihrem Plan ab, als sie deren Eltern laut streiten hören. So wird auch Yuri Teil der Hausgemeinschaft sowie der getanzten Choreografie durch die Supermärkte und Einkaufszentren Tokyos.

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Was im juristischen Sinne einer Entführung gleichkommt, inszeniert Hirokazu Kore-eda als einen Akt der Menschlichkeit und des Mitgefühls. Es ist nicht das einzige Mal, dass sich in Shoplifters ein Wertesystem vermittelt, welches nur schwer als klassisch bezeichnet werden kann. Dass Osamu und Nobuyo ihre „Kinder“ zum Stehlen animieren, registrieren Hirokazu Kore-eda und sein Kameramann Ryûto Kondô zwar, ein moralisches Urteil erlauben sie sich jedoch nicht.
Auch die Frage, was Familie bedeutet und wer dazu gehört und wer nicht, wird in Shoplifters verhandelt, wenn auch nicht abschließend beantwortet. Deutlich wird jedoch, dass für Hirokazu Kore-eda Familienzugehörigkeit offenbar nicht notwendigerweise genetisch bedingt sein muss.

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The Tokyo Project

Shoplifters ist ein zutiefst humanistischer Film, dessen große Stärke darin liegt, dass er Bilder für die prekäre Situation seiner Protagonisten findet, ohne dabei Armutstourismus für das ci­ne­phi­le Bildungsbürgertum zu veranstalten oder die Charaktere zu leidenden Heiligenfiguren zu stilisieren, wie es beispielsweise Alfonso Cuarón in Roma tut.
Die unwürdigen Wohn- und Angestelltenverhältnisse der Protagonisten – Osamu verdingt sich als Tagelöhner auf der Baustelle, und Nobuyo arbeitet in einer Wäscherei – sind jederzeit spürbar. Trotzdem versprühen die Figuren auf der Leinwand, ähnlich wie in Sean Bakers Florida Project, eine gewitzte Lebensfreude, die regelrecht ansteckend wirkt. Hirokazu Kore-eda gelingt es, seiner teilweise vorhersehbar wirkenden Geschichte immer wieder überraschende Wendungen zu geben, ohne dabei in den M.-Night-Shyamalan-Modus zu verfallen.
Eine Anekdote zum Schluss: Nachdem Hirokazu Kore-eda in Cannes die Goldene Palme abräumt hatte, flog er – so erzählt man – am nächsten Tag mit dem Preis unterm Arm direkt nach New York, wo er Ethan Hawke in dessen Büro aufsuchte, um diesem eine Rolle in seinem neuen Film anzubieten. Der US-amerikanische Schauspieler konnte so kaum Nein sagen und dreht daher zur Zeit in Paris an der Seite von Juliette Binoche und Catherine Deneuve Verite, das nächste Werk des Japaners.

Shoplifters
JPN 2018
Regie & Drehbuch: Hirokazu Kore-eda
Besetzung: Lily Franky, Sakura Andô, Kairi Jyo, Kilin Kiki, Mayu Matsuoka, Miyu Sasaki
Schnitt: Hirokazu Kore-eda
Kamera: Ryûto Kondô
Musik: Haruomi Hosono
Laufzeit: 121 min
ab dem 27.12.2018 im Kino

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