Podcast-Kritik: The Bellingcat Podcast – MH17Wie ein Passierflugzeug beim Flyover zum Opfer des Ukraine-Konflikts wurde

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295 Menschen starben, als vor fünf Jahren ein Flugzeug der zivilen Luftfahrt über der Ukraine abgeschossen wurde. Warum?

Am 15. Februar 2013 raste der größte bekannte Meteorit seit über 100 Jahren, der Meteor von Tscheljabinsk, in die Luftschichten über dem russischen Ural. Ein Kometenschauer, ein eindrucksvolles Schauspiel, von dem es ungewöhnlich viele bewegte Bilder gibt – so, als hätten viele Menschen gewusst, was das kommt. Die Fernsehberichte an diesem Tag konnten mit vielen unterschiedlichen Ansichten und Perspektiven arbeiten. Grund dafür ist, dass in Russland so genannte Dashcams sehr verbreitet sind, Videokameras, die z.B. an die Windschutzscheibe oder den Rückspiegel geklebt werden, um im mitunter sehr ruppigen russischen Straßenverkehr Beweismaterial für die Versicherungen zu haben, wenn es kracht.

Fast anderthalb Jahre später, am 17. Juli 2014, flog eine Boeing 777-200ER der Malaysia Airlines von Amsterdam nach Kuala Lumpur. Und stürzte mitten im Flug, mit 295 Personen an Bord, beim ukrainischen Dorf Hrabowe ab. Von diesem schrecklichen Ereignis selbst gibt es keine Bilder, wohl aber davon, wie es dazu kam: Das internationale Investigativrecherche-Projekt „Bellingcat“ hat sich in den vergangenen fünf Jahren intensiv mit dem Fall „MH17“ beschäftigt und legt in ganzen 80 Beiträgen auf seinem Portal dar, warum das Flugzeug abstürzte und fast 300 Menschen sterben mussten: Es ist abgeschossen worden. Eine Flugabwehr-Rakete des Typs BUK hatte das Flugzeug in der Luft zerstört. Die mobile Rampe, von der die Boden-Luft-Rakete bei Snizhne auf ukrainischem Gebiet gestartet wurde, stammte aus Russland – sie ist eine Entwicklung aus Sowjet-Zeiten. Und war einige Tage vor dem Abschuss aus dem russischen Kursk in die Ostukraine verbracht worden – davon gibt es zahlreiche Bilder, die großenteils auch von Dashcams stammen. Sie zeigen, wie der Konvoi sich seinen Weg durch Russland und die Ukraine bahnt – viele, die an dem Tross vorbeifuhren, hatten die Bilder in sozialen Netzwerken gepostet. Material, das vom Bellingcat-Team ausgewertet und verglichen wurde.

Die Journalisten kommen zu einem eindeutigen Ergebnis: Russland ist, mindestens durch Bereitstellung des Waffensystems für die prorussischen Separatisten, eher aber sogar durch eigene Betätigung des Systems durch russische Soldaten, die sich auf ostukrainischem Gebiet befanden, verantwortlich für den Abschuss. Ob beabsichtigt war, ein Flugzeug der zivilen Luftfahrt abzuschießen, oder es sich um ein „Versehen“ handelt und man ein Militärflugzeug hatte treffen wollen, bleibt bisweilen unklar.

Dass ein Fall, der so sehr von visueller Evidenz lebt – neben Bellingcat haben noch viele andere Medien bildreiche Storys zum Fall veröffentlicht – sich doch für ein „blindes“ Audioformat eignet, zeigt einmal mehr, dass Hören und Podcasthören im Speziellen noch einmal eine ganz andere Art von individueller Aufmerksamkeit erzeugen kann. Weniger theoretisch formuliert: Die erste, sechsteilige Staffel des Bellingcat Podcast rollt die Tragik des Flugs MH17 noch einmal ganz anders auf. Los geht es mit einer Beschreibung des Bildes, das sich Ersthelfern und Ermittlern am verstreuten Absturzort bot: Trümmer, Koffer, Leichenteile, eine Minnie-Mouse-Brotbox – eine moderne Hieronymus-Bosch-Hölle, wird an einer Stelle gesagt. Betrunkene, aufgedrehte Soldaten der Separatisten verwehrten zunächst den Zugang, Beweismaterial inklusive Flugschreiber wurden beiseite geschafft. Weiter geht es mit der nach Bellingcat-Recherchen gezielt lancierten Medienkampagne, die zeitnah nach dem Absturz/Abschuss losging: Über 65.000 Tweets beschuldigten Kiew, verantwortlich zu sein. Eine vom Kreml eingerufene PK stieß in eine ähnliche Richtung. Weiter geht es mit der Routen-Rückverfolgung des Raketenwerfers, der vom russischen Kursk aus gestartet war, wie sich nahezu lückenlos nachweisen lässt und das anhand von Open-Source-Material. Wer waren die Organisatoren des Transports? Wir hören Telefon-Mitschnitte und Stimmenvergleiche von Militärs der proklamierten „Volksrepublik Donezk“ und Russlands, die ebenso klar belegen – hier gab es Verbindungen. Die Beweislage ist so drückend, dass die verurteilenden Kommentare des Podcast-Sprechers einer Verdopplung gleichkommen, doch sie sind Ausdruck einer Verzweiflung: Denn bislang wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Auch gibt es bis jetzt und wohl bis in alle Zeiten kein Eingeständnis oder eine Entschuldigung Russlands – im Gegenteil: Die pro-russische Medienmaschine ist gut geölt, Staat und Medien sehen die Recherchen Bellingcats als Teil des internationalen „deep state“, der westlichen Verschwörung gegen Russland.

Die Causa MH17 ist so zu einem Teil des West-Ost-Kräftemessens geworden, das längst überwunden schien und aktuell wieder neu entflammt: Es ist ja nur wenige Tage her, seit die USA nach dem Ende des INF-Abrüstungsvertrags einen Marschflugkörper getestet haben. Willkommen zurück im Kalten Krieg.

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