„Mensch – Maschinen – Musik. Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk“Buchrezension: Die große Anthologie zum großen Mythos

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Keine weitere unautorisierte Biografie, keine sinnfreie Aneinanderreihung von Roboter-Klischees. Mit der kürzlich erschienenen Textsammlung „Mensch – Maschinen – Musik“ bekommt der Mythos Kraftwerk neuen Zunder. Runter von der Autobahn und rein in die Zukunft der Vergangenheit.

Vor einigen Jahren fanden im englischen Birmingham einige der wichtigsten KulturtheoretikerInnen unserer Zeit zusammen, um über ein einziges Thema zu reden: das Gesamtkunstwerk Kraftwerk und dessen Einfluss auf Musik, Kultur und Gesellschaft. Ein Symposium unter akademischen Kreisen, veranstaltet, um dem Wirken und Werk einer der wichtigsten Bands der Neuzeit zu huldigen, mit neuen Ansätzen zu erörtern und geflissentlich zu erweitern. Das nun vorliegende und von Uwe Schütte im C.W. Leske Verlag herausgegebene Buch „Mensch – Maschinen – Musik“ basiert zu einem wesentlichen Teil auf den Erkenntnissen und Vorträgen dieser Konferenz und bietet einen überraschend niederschwelligen Einstieg in das bis heute andauernde Phänomen Kraftwerk.

Kraftwerk, das ist heute vor allem ein Mythos. Irgendwie und irgendwo haben alle schon einmal die unverkennbar futuristisch anmutenden Synthesizer-Sounds von Trans Europa Express gehört, sind mit Karacho über die „Autobahn“ gedonnert oder bekamen den eingängigen Chorus von „Das Modell“ nicht mehr wieder aus dem Kopf. Das alles ist Kraftwerk und auch wieder nicht. Denn seit ihren großen und rückwirkend gleichermaßen als Hauptwerk bezeichneten Alben verging, nun ja, ein bisserl Zeit. 40 Jahre und mehr sind jedenfalls kein Fliegenschiss und unter Robotern eine halbe Ewigkeit. In dieser Hinsicht ist es hilfreich, dass sich sich die Beiträge in diesem neuen Buch dem Gesamtkunstwerk als solchem widmen und sich an der umfassenden, bis heute andauernden Band-Chronologie orientieren. Sie zeichnen das einstige (und immer noch verleugnete) frühe Schaffen von Ralf Hütter und Florian Schneider nach, analysieren die von Düsseldorf ausgehende Entstehungsgeschichte im Kontext des amerikanisierten Nachkriegsdeutschlands und ordnen den Beginn von Kraftwerk im Hinblick auf die (nicht nur) in Deutschland ausgebliebene Aufarbeitung des Nazismus als sinnstiftende Identitätsfindung ein.

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Der Fokus liegt dabei primär auf der Diskografie und ihrer historischen Kontextualisierung. Allerdings wird auch der zunehmenden Umstrukturierung und Musealisierung des Gesamtkunstwerks Kraftwerk Platz geboten. Die eigentliche Distanzierung in Raum und Zeit ermöglichten es nämlich erst, dieses in einem derartig erweiterten Rahmen zu beleuchten. Ausgehend von einer frühen Suche nach der eigenen Identität – für Ralf Hütter war das Entwickeln einer solchen eng mit der Abgrenzung von der Nazi-Vergangenheit Deutschlands verbunden – und der damit zusammenhängenden Definition ihres Sounds wird der sich anbahnende Prozess der Internationalisierung hin zu einer Abkehr von konventionellen Identitätskonstruktionen und der technisch unterstützten Entpersonalisierung nachgezeichnet.

Dies geschieht teils mit akribischer Genauigkeit, teils mit deutlichem Hang zur eigenen Faszination der AutorInnen, ohne dabei aber jemals eine tendenziöse Unschärfe anzudeuten. Manche Beiträge sind offenkundig mitreißend und mit unzähligen Anekdoten und Beobachtungen gespickt. Andere arbeiten sich hermeneutisch an den Texten, der Musik und ihrer Performance ab. Das Buch bietet dementsprechend interdisziplinäre wie stilistische Freiräume an, innerhalb derer die AutorInnen durchaus experimentierfreudig agieren dürfen. Unveröffentlichte Interviews und Ausschnitte aus einem Drehbuch für einen Kraftwerk-Film, der nie gedreht wurde, sorgen zudem dafür, dass die Abfolge an analytischen Texten merklich aufgelockert wird.

Kraftwerk steht für ein digitalisiertes Verständnis von Musik in einer vordigitalisierten Welt.

Kraftwerk steht für ein digitalisiertes Verständnis von Musik in einer vordigitalisierten Welt. Die Düsseldorfer Gruppe träumte stets hoffnungsvoll und fasziniert von einer Zukunft, die sie selbst in gewisser Weise mitprägen sollte. Autoren wie Didi Neidhart und der Herausgeber Uwe Schütte selbst betonen deshalb diesen der Gruppe immer inhärenten und quasi-konstitutiven Fortschrittsgedanken, auch wenn sie gleichermaßen darauf hinweisen, dass deren Musik stets im zeitlichen Kontext ihrer Entstehung betrachtet werden muss. Utopien waren denkbar, Veränderung war möglich, die Zeit ganz einfach eine andere als heute. Diese Einordnung in die Geschichte der Popkultur ist es letztlich auch, was die einzelnen Beiträge so zugänglich macht.

Außerdem fließt der nicht unwesentliche Beitrag zur Kulturgeschichte und der damit zusammenhängende, stilbildende Einfluss auf nachfolgende Bands und Musikrichtungen in die Analyse ein. Dass dabei die diskursiven Grenzen des besprochenen Mythos nicht verschoben werden, sondern eher ihrer eigenen Reproduktion unterliegen, soll hier einmal außen vor bleiben. Als besonders interessant stellt sich in diesem Zusammenhang der abschließende Beitrag von Johannes Ullmaier heraus. Dessen Text steht nämlich ostentativ als desillusionierende Antithese zum lebenden Mythos Kraftwerk und kritisiert den über Genre-Grenzen etablierten Kanondruck, der Kraftwerk zu einer Art alleinigem Urknall der heutigen Populärkultur hochstilisiert.

An der ausdrücklichen Empfehlung für „Mensch – Maschine – Musik“ tut diese jedenfalls keinen Abbruch. Die Anthologie verbindet akademische Analyse mit popkultureller Leichtigkeit, bleibt dabei durchgehend lesbar und dürfte generelle Anknüpfungsmöglichkeiten bieten. Sowohl für ausgewiesene KennerInnen und Fans von Kraftwerk als auch für interessierte NeueinsteigerInnen. Ein hervorragender Einstieg und eine fundierte Vertiefung, um die einstige Musik der Zukunft (wieder) neu zu entdecken.

Uwe Schütte (Hrsg.), „Mensch – Maschinen – Musik. Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk“ ist im C.W. Leske Verlag erschienen und kostet 24,90 €.

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