Pageturner – Februar 2024: Behütet und kalt, Amerika träumt nicht mehr, Kern des DaseinsLiteratur von Elif Batuman, Celeste Ng und Katie Kitamura

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Elif Batuman leuchtet das Leben priviligierter Harvard-Student:innen zu einem Cringe-Fest aus, zu dem Proust aus der Ferne zustimmend nickt. Celeste Ng streift durch eine autoritär regierte Dystopie der USA und schildert ein unendlich müde gewordenes Amerika. Und Katie Kitamura fragt am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, wie wir zueinanderfinden können. Frank Eckert hat wieder Pages geturnt.

Elif Batuman – The Idiot / Either/Or (Penguin, 2018, 2022)

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Die Adoleszenz ist die einzige Phase, in der man Erfahrungen macht. Das wusste bereits Marcel Proust. Dessen Zitat aus dem zweiten Band von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ eröffnet den Debütroman der Autorin und Literaturwissenschaftlerin Elif Batuman. Wie es sich in der verlängerten Adoleszenz der Studienzeit verhält, ob Prousts Aussage auch noch in dem abgeschotteten und – wie gerne behauptet wird – „geschützten“ Raum der US-amerikanischen Eliteuniversitäten zu halten ist, untersuchen Batumans Romane „The Idiot“ und „Either/Or“.

Beide Titel berühmter Werke der Weltliteratur beziehungsweise Philosophie dienen als Leitlinien der sentimentalen Erziehung der Erzählerin beider Romane, jeweils über den Zeitraum des ersten und zweiten Studienjahres an den Fakultäten für Linguistik und Literaturwissenschaften der Harvard-Universität. Es geht also um ein Milieu wohl behütet aufgewachsener, hochintelligenter junger Menschen, denen in ihrer Schulzeit eventuell einmal zu oft gesagt wurde, wie brillant sie sind und die sich nun unter ähnlich hellen Geistern zurechtfinden müssen, die in den Semesterferien jeweils ihre (kleine) „Grand Tour“ durch Europa machen (Frankreich, Ungarn, Türkei) auf den Spuren des angehimmelten, selbstverständlich älteren und emotional kalten Jungmannes. Es geht um kluge junge Menschen, die all ihre Gefühle, Hoffnungen und Wünsche mit den gerade gelesenen Klassikern der Weltliteratur und Philosophie abgleichen und dennoch so gut wie nichts über das Leben wissen und mit einer emotionalen Dummheit und Abgestumpftheit reagieren, die die Bücher, vor allem „The Idiot“ zu einem Cringe-Fest werden lassen, das seinesgleichen sucht.

Es ist frappierend, wie sich die fiktive Welt der in den späten Neunzigerjahren Studierenden sich in der realen heutigen spiegelt, wie schwierig offenbar das Entwickeln von Empathie oder altmodisch ausgedrückt die „Herzensbildung“ zwischen all der Exzellenz ist. Proust hatte recht, nur eben auf andere als erwartete Weise. Das sowohl „The Idiot“ wie das noch ein Stück bessere, weil erwachsenere „Either/Or“ exzellente zeitgenössische Literatur darstellen, die selbst zum Klassiker werden könnten, ja müssten, ist dem unbenommen.

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Celeste Ng – Our Missing Hearts (Penguin Press, 2022)

Mit ihren leisen Suburbia-Epen wurde Celeste Ng zur Bestsellerautorin und zur aktuell wohl mit am präzisesten beobachtenden Chronistin der US-amerikanischen Vorstadt-Nuklearfamilien-Mittelklasse. Eine Rolle, die in einer anderen Generation zum Beispiel John Updike oder Richard Ford innehatten. Mit ihrem dritten Roman „Our Missing Hearts“ wagt sie sich auf spekulatives Terrain, bleibt aber zumindest in weiten Teilen des Romans ihrem bekannten Milieu treu.

In den nach einem chaotischen Beinahe-Bürgerkrieg autoritär regierten USA herrscht ein anonymes protofaschistisches Kontrollsystem, das unamerikanische (und unchristliche) Umtriebe gnadenlos verfolgt und strikt bestraft. Die Kontrolle erfolgt über Zensur, Denunziation und Bespitzelung, durch Pogrome und Internierung, vor allem durch den staatlichen Entzug der Kinder aus den Familien, klassischer Silencer-Strategie autokratischer und totalitärer Systeme, seien sie nun völkischer oder religiöser Art. Bestraft wird freie Rede und künstlerischer Ausdruck so er unamerikanisch wirken könnte. Zudem stehen alle und alles was mit der aktuellen Wahlfeindschaft mit China zu tun haben könnte unter Generalverdacht, seien die Verbindungen auch noch so indirekt oder assoziativ, ein „asiatisches“ Aussehen genügt da manchmal schon. Wer in den vergangenen Monaten einmal die Zeitung aufgeschlagen hat ahnt, dass der aggressive China-Anatagonismus der Fiktion dem realen von Trump zu Biden perpetuierten kaum nachsteht und reale außen- wie innenpolitische Konsequenzen zeitigt.

Keine gute Zeit also für den zwölfjährigen Bird, dessen Mutter, Professorin, Künstlerin und Lyrikerin chinesischer Abstammung letztlich in den Untergrund abgetaucht ist, nachdem sie wegen kritischer Anmerkungen mit Berufsverbot belegt und immer wieder verhaftet wurde. Und dessen Vater ein offenbar resignierter Mitläufer ist, der jede Art von Lebensmut und Widerstand aufgegeben hat und nur noch versucht, unter keinen Umständen negativ aufzufallen. Dann gelangt allerdings ein kryptischer Brief durch die Zensur, der Bird auf die Suche nach der Mutter schickt: mit Hilfe einer alten japanischen (und deswegen auch verfemten und aus dem Internet und den Bibliotheken verschwundenen) Tierfabel „The Boy who Liked to Draw Cats“ und einer Art bibliophiler „Underground Railroad“ von Büchern und Menschen. Die allgegenwärtige Überwachung, die niederschwellige aber permanent präsente Bedrohung durch das politisch-polizeiliche System wirkt trotz zeitgenössischer Technik wie Drohnen, Smartphones und Internet eher wie eine Steckrübeneintopf-Dystopie des späten 20. Jahrhunderts, zwischen „Handmaids Tale“ und Kazuo Ishiguros „Never Let Me Go“ oder „Klara and the Sun“ mit einer Prise „1984“.

Die autoritäre Bedrohung ist keine abstrakte KI in der Cloud, sondern eine miefige Blockwart-Kontrolle im Nahbereich. Stasi statt Singularität. Nicht nur was den Umgang mit Wissenschaft, Kunst und Büchern angeht eher eine Art Kulturrevolution 2.0, eine ganz und gar unamerikanische Ironie, welche den Schergen des Systems aber offenbar entgangen ist. Die Idee aufmüpfige Intellektuelle und unpassende Akademiker durch stupide sich wiederholende wie harte manuelle Arbeit gefügig zu machen, ist halt so neu nicht. Ng erzählt das aus der Perspektive des Halbwüchsigen. Das mag weniger raffiniert sein als das multiperspektivische „Little Fires Everywhere“, überzeugt aber durch eine sich stetig aufbauende unbehagliche Spannung (wir wissen nie wirklich mehr als Bird, was los ist), die in einem Road Novel/Thriller langsam abbrennt. Und sie überzeugt ästhetisch in der Schilderung eines winterlich grauen, unendlich müde gewordenen postrevolutionären Amerikas, das lange aufgegeben hat, zu träumen.

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Katie Kitamura – Intimacies (Riverhead Books, 2021)

Was können wir wissen, über andere, über uns selbst? Wie weit können wir unser Innenleben, unser tiefsitzendes Wissen aus Erfahrungen, unsere Emotionen weitergeben, in Sprache übersetzen? Wie können wir hoffen zu verstehen (uns selbst und andere), wie können wir nur hoffen, verstanden zu werden? Die präzise und subtile Prosa von Katie Kitamura stellt diese Fragen anhand einer Erzählerin, die – fünf-plus-sprachig, einer globalisierten internationalen Bildungselite angehörig – von Singapur via New York einen vorübergehend geplanten, vielleicht irgendwann einmal permanent gedachten Job als Simultanübersetzerin am Internationalen Gerichtshof in Den Haag annimmt. Nicht nur des Renommees wegen, auch um ihre kosmopolitische Wurzellosigkeit besser verstehen zu lernen, um vielleicht sogar einmal anzukommen, irgendwo.

Doch einfach ist das nicht. Weder die komplizierte Affäre mit einem gerade geschiedenen Holländer noch der betont neutrale Umgang mit Anwälten und Kriegsverbrechern der übelsten Sorte in ihrer Arbeit erleichtern auch nur irgend etwas. Eine seltsame Obsession mit einem vergleichsweise banalen Akt der Gewalt, deren Zeugin ihre einzige Bekannte in Den Haag wird, verkompliziert die Verhältnisse zusätzlich. Immer geht es um Vermittlung, Übersetzbarkeit, den Zugang zu den eigenen Gefühlen und Gedanken und denen anderer. In knappen, einfachen, aber polierten und auf den Punkt kommenden Sätzen nähert sich Kitamura diesem Wesenskern unser aller Dasein. Das ist schlicht brillant.

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