Fragmente einer GroßstadtBiedermeier Reloaded – Zuflucht vor dem Weltgeschehen

Fragmente einer Großstadt Biedermeier Reloaded Full

Wenn ich mich morgens im Office mit der ersten Tasse Kaffee rituell an meinen Schreibtisch setze, den Computer anschalte und ZEIT online, Facebook und Pinterest aufrufe, um mich kurz auf den Tag vorzubereiten, bin ich ziemlich schnell ziemlich geladen. Positiv und negativ, bipolar und ambivalent, objektiv und subjektiv.

Was da bei mir abläuft, könnte man als Masochismus gepaart mit Seelentröstung bezeichnen. Als Zuckerbrot nach der Peitsche. Oder klassische Musik nach einem Rammstein-Konzert (nicht, dass ich jemals auf eins gehen würde!).

Es ist schon komisch. Zuerst knallen wir uns News rein, die von Gewalt, Hunger, Waffen, Umweltzerstörung, Klimawandel, Arbeitslosigkeit, Flucht, Korruption, vorgeblich religiös motivierten Massenmorden und dem allgemeinen Weltuntergang sprechen… Autsch, gesichtsverzerrendes Kopfschütteln begleitet den Klick auf das kleine rote X, der den vermeintlich bösen Tab schließt. Dann brauchen wir Beruhigung: Wenn wir nicht den ganzen Tag mies gelaunt und desillusioniert aussitzen wollen – und das können wir uns gar nicht erlauben (wir müssen schließlich arbeiten) – muss eine Streicheleinheit her. Auf zum nächsten Tab.

Damit der Übergang nicht allzu hart ist, schalte ich eine schnelle Facebook-Runde dazwischen, wo mir ein paar ironische politische Kommentare, Musikvideos, Strandfotos, Graphic Novels und Magazin-Cover-Illustrationen entgegen fliegen. Dann folgt Pinterest, wo ich extra für mich ausgewählte Posts, die hier Pins heißen, anschaue und sie bei großer Begeisterung auch selbst auf eines meiner Boards nadeln kann. Noch mehr Graphic Novels und Illustrationen. Und schöne Berliner Hocker aus Holz, selbst gebaut, mit Anleitung. IKEA-Hacks, die ein 08/15-Regal in ein individuelles Designerstück zu verwandeln. Metallene Lampenschirm-Gestelle, die man mit buntem Garn umwickeln soll. Kleine Betonschalen und Tonbecher. Getrocknete Wildblumen auf robusten Holztischen. Granola-Superfood-Müsli und Kokos-Matcha-Avocado-Smoothie. Das alles äußerst ästhetisch, schick und unter angenehmen Lichtverhältnissen fotografiert. Mit entspannten Gesichtszügen scrolle und pinne ich wie in Trance. Die Maße für den Berliner Hocker speichere ich auf meinem Desktop ab.

Ich bin mir des Selbstbetruges bewusst. Doch macht es diese tägliche Dosis Schöne-Dinge-Ritalin einfacher. Opium für das Gemüt. Biedermeier, nur anders: Wir haben – Internet sei dank – kaum noch die Chance, unpolitisch zu sein. Oder zumindest nicht, uns dem Konsum von Nachrichten aus aller Welt gänzlich zu entziehen. Die Frage ist, wie ertragen wir diese geballte Wahrheit? Je härter die Schlagzeilen, desto größer muss der Ausgleich sein. Desto wärmer das Holz, aus dem wir unseren Hocker bauen, um anschließend auf ihm die selbst gepflückten Wiesenblumen zu fotografieren und das schicke Bild auf Instagram mit unseren Freunden zu teilen. Scheint mir so, als ob wir Biedermeier sein müssen, weil wir zum Masochismus neigen. Oder sind wir doch Realisten, die nicht in die Depression abrutschen wollen?

Kristina Wedel ist freie Illustratorin und lebt in Berlin-Neukölln. Wo andere ihre Smartphones mit nie wieder angesehenen Fotos füllen, hält sie ihren Stift – vorzugsweise einen einfachen, schwarzen Muji-Pen – bereit und zeichnet jene Eigenarten des urbanen Alltags, die sich nicht so leicht ablichten lassen. Für Das Filter erzählt sie jeden zweiten Mittwoch die Geschichten hinter ihren Bildern.

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