„Ich bin Mr. Flipper“Auf einen Ingwertee mit Carl Craig

Carl Craig lead full

Foto: Pierre Emmanuel Rastoin

Mit „Versus“ erfüllt sich Carl Craig einen lang gehegten Traum: Seine Zusammenarbeit mit Francesco Tristano und dem Orchester „Les Siècles“ unter der Leitung von François-Xavier Roth endlich als Album zu veröffentlichen. Klassik und Techno? Ist 2017 ja mittlerweile Tagesgeschäft. Der Underground von früher ist längst Teil dessen, was damals als Hochkultur verpönt war. Und ist vielleicht genau deshalb auch immer noch ein Aufreger: Mit der Vergangenheit, der prägenden Phase einer Musik, macht man keine Späße. Dem 47-jährigen Carl Craig ist das jedoch herzlich egal, und so rumpeln Klassiker wie „Darkness“, „At Les“ „Technology“ oder „Domina“ auf der neuen Platte durch den Orchestergraben, unterstützt von Beats und Sounds aus Craigs Maschinen. Davon kann man zunächst mal halten, was man will. Darüber reden muss man aber auf jeden Fall.

Es gibt ein Video von Carl Craig, das ist Jahre alt, da sitzt er auf dem Podium der MIDEM in Frankreich und sagt: „I’m here to fuck the industry.“ Die Welt hat sich seitdem weitergedreht und verändert. Craig selbst auch: Der Produzent hinter Pseudonymen wie 69, Psyche, Innerzone Orchestra oder Paperclip People hat sich nie ausschließlich auf seine Maschinen verlassen, hat immer wieder Genre-übergreifend gearbeitet und sich so auch mit der Klassik auseinandergesetzt, ob als Remixer gemeinsam mit Moritz von Oswald für die Recomposed-Serie

der Deutschen Grammophon oder eben als schüchterner Knöpfchendreher im konzertanten Hintergrund. Seit 2008 arbeitet er immer wieder mit seinem Freund, dem Pianisten und Techno-Produzenten Francesco Tristano an der orchestralen Umsetzung seiner eigenen Musik. Viele seiner Fans müssen dabei erstmal drei Tage Basic Channel am Stück hören, andere wiederum finden es einfach gelungen. Oder zumindest interessant. Jetzt erscheint mit „Versus“ genau diese Gegenüberstellung unterschiedlicher Entwürfe als Album.

Carl Craig trägt graues Schwarz, eine randlose Brille und wirkt ein bisschen müde. Seine Cola ist halbleer und er studiert sofort die Speisekarte, als wir uns im Restaurant des „Soho House“ setzen. Ein Set in der Panorama Bar liegt hinter ihm, drei Stunden habe er gespielt, sagt er, fast zu kurz für sein Gefühl. Der Club sei immer noch etwas Besonderes, selbst er könne dort nichts erwarten, außer ein Publikum, das sich auf ihn einlässt, Brüche im Flow akzeptiert und bereit ist, die Nacht, den Tag mit jedem DJ von Neuem zu beginnen. In der Panorama Bar herrsche eine „strikte Freiheit“. Das sei eine gute Sache. Was es heute viel zu selten gebe, auf allen Seiten.

Dann starten wir doch gleich den großen Techno-Rant. Wie hat sich das Geschäft aus deiner Sicht über die Jahre entwickelt und verändert? Am Anfang, so stelle ich mir das jedenfalls vor, war es ja noch nicht mal ein Geschäft, zumindest kein ernstzunehmendes.
Diesen einen Bruch, diesen Moment, in dem sich alles professionalisierte, den gab es nicht. Es war ein eher schleichender Prozess. Als ich 1989 begann, waren die Voraussetzungen ja auch noch ganz andere. Meine Kumpels und ich in Detroit, wir gingen wirklich davon aus, uns mit der Musik die Kulissen aus Blade Runner nachzubauen. Mittlerweile hat uns diese erfundene Zukunft ganz faktisch eingeholt. Sie hat sich anders entwickelt. Und die Musik mit ihr. House und Techno wurden immer wieder neu erfunden und interpretiert. Es ist einfach nicht mehr die Musik von damals.

Wie gehst du damit um? Augen zu und durch? Einfach mitmachen und das Geld, die Kommerzialisierung wertschätzen? Oder fühlst du dich bemüßigt, Dinge klar zu stellen?
Moment (wendet sich an den Kellner). Ich möchte Ingwertee. Aber der Ingwer muss geraspelt werden, nicht nur kleingeschnitten. Und in einen Teebeutel, nicht ins Wasser. Raspeln. Raspeln. Ganz wichtig. Entschuldige, wo waren wir? Ingwer ist kompliziert. Genau wie Techno. Ich könnte mich natürlich dazu hinreißen lassen, große Reden darüber zu schwingen, wie früher alles anders war. Oder einfach gar nicht mehr mitspielen, eine Pause machen, mich verweigern. Aber: Dabei kann man sehr schnell sehr alt werden. Entweder ganz oder gar nicht. Als Football-Spieler kannst du die Pausen auch nicht selbst bestimmen. Es ist doch eigentlich ganz einfach. Es gibt immer gute Musik. Ich fände es vermessen, aktuelle Musik, neue Tracks, nicht zu hören und mich damit nicht auseinanderzusetzen. Vielleicht ist das eine Eigenart von uns Detroitern: Am Ball zu bleiben. Sich dafür zu interessieren, was die Kids machen. Ich habe das jedenfalls immer so wahrgenommen. Andersrum funktioniert es ja genauso. Die jungen Leute hören alte Platten von dir und drehen sie komplett um. Und dann kommt jemand, der genau das auch wieder umdreht. They flip that shit. Und wenn der junge Typ, der gerade meinen alten Track „From Beyond“ entdeckt hat, ihn runterpitcht und dazu rappt und sich dann fragt: Was mag dieser Vogel wohl heute machen? Dann kann ich sagen: Ich bin hier. Ich schreib dich auf die Gästeliste. Und ich finde es toll, wie du den alten Track geflippt hast. Ich habe immer gesampelt. Jetzt hast du mich gesampelt. Wer weiß, vielleicht sample ich dich nächste Woche. Das unterscheidet mich und meine Generation von den Originators in Detroit. Die finden es gar nicht gut, wenn ihre alten Track verwurstet werden. Sie sind mit dieser Kultur nicht aufgewachsen. Mir ist das alles recht. Ich bin Mr. Flipper.

Transformation also. Das ist ja auch eines der entscheidenen Stichworte für das neue Album „Versus“. Viele deiner großen Hits – Klassiker –, gemeinsam mit einem Orchester neu interpretiert. Kein ganz einfaches Unterfangen. Klassiker, so sagen viele, sollte man besser nicht mehr anfassen und schon gar nicht von einem Orchester spielen lassen. Das sind einfach die falschen Streicher. Was sagst du denen?
Fuck off.

„Mit „Versus“ wollten wir nichts besser machen. Wir wollten etwas anders machen.“

Nächste Frage!
Nein, nein, Moment, das ist wichtig. Denn eigentlich bin ich genau einer von diesen Leuten. Ich gehe extrem hart mit Produzenten ins Gericht, die ihre alten Stücke immer wieder anfassen und so versuchen, ihre eigene Rolle zu monopolisieren. Früher waren diese Neueinspielungen vor allem den Verträgen geschuldet, die Musiker mit ihren Labels abgeschlossen hatten. Es war kein Rankommen mehr an die alten Bänder, also blieb einem gar nichts anderes übrig, als den Song tatsächlich neu aufzunehmen und nachzuahmen. Das Problem dabei: Je älter wir werden, desto eher glauben wir, dass wir in unserem Schaffen auch besser werden. Die Technik ist fortgeschrittener, man hat mehr Möglichkeiten und natürlich sind wir auch viel tollere Musiker geworden und können mittlerweile viel professioneller spielen. Das ist natürlich Quatsch. Ein Track, den man vor zig Jahren aufgenommen hat und der in dieser Version immer noch gespielt wird, ist ein großer Glücksfall. Das hat genau so gepasst, ganz egal wie schlecht er klingt, wie viele Fehler da drin sind. So etwas kann man nicht besser machen. Wer so denkt, kann eine neue Aufnahme nur an die Wand fahren. Mit „Versus“ wollten wir nichts besser machen. Wir wollten etwas anders machen. Wer das Original von „Sandstorms“ nicht mag, findet vielleicht diese Version toll. Das wäre doch schon was.

Carl Craig 02

Foto: Pierre Emmanuel Rastoin

Das Album ist nicht dein erster Berührungspunkt mit einem Orchester, sondern vielmehr das Ergebnis einer langen Phase des Experimentierens. Hat der kleine Carl an seinem Sampler sich früher auch nicht ausmalen können, dass das wirklich erst passiert und dann veröffentlicht wird, oder?
Klingt wie ein Klischee, ist es vielleicht auch, aber meine Mutter hat immer gesagt: Was du dir vornimmst, kannst du auch umsetzen. Hatte sie wohl recht mit. Natürlich ist der Gedanke daran, mit einem Orchester zu arbeiten, sehr abstrakt. Aber: Eigentlich ist alles, was ich tue oder tun will, sehr abstrakt, bis es wirklich passiert.

„At Les“ mit großen Orchester: Das ist dann aber wirklich kein Underground mehr.
Das mag so sein, ist mir aber egal. Ich bin mit dem Orchester-Sound aufgewachsen. Coverversionen von Beatles-Songs, Motown, Philly International: ganz wichtige Einflüsse für mich und vollkommen egal, unter welchen Bedingungen diese Aufnahmen damals entstanden sind, ob es am Ende nur ein Quartett war, das sich selbst immer wieder gedoppelt hat.

„Findet Derrick bestimmt gar nicht gut, der regt sich schnell auf.“

Was sagen denn deine Techno-Freunde zu „Versus“?
Viele von ihnen haben es noch gar nicht gehört. Ich bin nicht der Typ, der anderen CDs zusteckt. Weil: Wenn sie die neue Musik blöd finden, will ich das unter gar keinen Umständen hören. Noch nicht mal Derrick May hat es gehört. Wir beide und Kevin Saunderson, Kenny Larkin, Juan Atkins und Stacey Pullen haben so einen Gruppen-Chat, in dem wir wirklich alles diskutieren. Auch da habe ich das Album noch gar nicht erwähnt. Findet Derrick bestimmt gar nicht gut, der regt sich schnell auf.

Mal ganz praktisch: Wie arbeitet es sich denn so mit einem Orchester? Diese Art von Alben gibt es ja derzeit en masse. Oft sehen die Musiker dabei aber gar nicht so glücklich aus, sie machen einen irritierten Eindruck.
Das erste Konzert habe ich mit dem Orchester, Les Siècles, und dem Dirigenten François-Xavier Roth ja schon 2008 gespielt. Hätten wir uns nicht verstanden und etwas Gemeinschaftliches gespürt, wäre das sicher nicht so lange gut gegangen. Ich erinnere mich genau, wie während der ersten Proben zwei Trompeter auf mich zukamen und erzählten, sie hätten meine alten Maxis zu Hause im Regal. Das tut natürlich gut. Bis zu diesem Moment war ich außerordentlich zufrieden, es klang gut und hatte den richtigen Groove. Wenn einige der Musiker aber auch noch eine persönliche Beziehung zu dem haben, was sie da ja faktisch spielen „müssen“, dann kann das Projekt eigentlich nur davon profitieren.

Carl Craig Francesco Tristano

Carl Craig und Francesco Tristano / Foto: Pierre Terdjman

„Was ist hier los? Wir sind doch alle Menschen? Da muss der Funke doch überspringen?“

À propos Groove: Wie erklärt man den einem klassischen Orchester?
Zum Glück hatte ich ja Francesco Tristano als Arrangeur an meiner Seite. Die Gefahren liegen natürlich auf der Hand. Wie bringt man zwei Welten – das Orchester und die Elektronik – so zusammen, das sie wirklich miteinander verschmelzen? Der Computer ist als Troublemaker ja prädestiniert, der ist ja selber schon ein Orchester. Wenn die eine Seite die andere nicht braucht, wie soll sowas gut werden? Dank Francesco klappt das aber bei „Versus“, er kennt beide Seiten, beide Welten. Man sagt ja immer, Musik sei so eine universelle Sprache und das stimmt natürlich auch. Aber oft genug gehen solche Projekte eben auch schief. Ich erinnere mich gut daran, als Yusef Lateef kurz vor seinem Tod ein Konzert mit dem Detroit Symphony Orchestra spielte. In der ersten Hälfte spielte Lateef solo und das Orchester begleitete ihn. Wunderschön, absolut perfekt. Im zweiten Teil spielte seine gesamte Band und das Orchester begleitete. Nicht so gut. Da wuchsen genau diese zwei Welten einfach nicht zusammen. Die Band swingt, nicht übertrieben, wie man das eben so macht im Jazz. Aber das Orchester kam damit nicht zurecht. Das wurde besonders deutlich, als der Schlagzeuger des Orchesters, nicht der Band, einen kleinen Drumroll spielte. Da war kein Groove, kein Soul, kein Jazz, das klang wie ein Drumcomputer. Ich saß im Publikum und dachte: Was ist hier los? Wir sind doch alle Menschen? Da muss der Funke doch überspringen? Das ist eine andere Art der Arbeit. Ich habe dann mit einigen Mitgliedern des Orchesters gesprochen, um zu verstehen, warum das nicht funktioniert hat und einer sagte: Wenn er in Rente geht, dann würde er sich mit Miles Davis beschäftigen. Vorher nicht. Könne er sich nicht leisten, das würde ihn für seine Aufgabe im Orchester verderben. Da geht es nicht um Improvisation, das ist nicht erwünscht. Da habe ich also Glück gehabt.

Was bleibt denn dann unter dem Strich übrig von einem Projekt wie „Versus“? Was ist der Mehrwert, wenn man die sequenzierte Welt des Computers mit mit der sequenzierten Welt des Dirigenten zusammenbringt?
Was ich vorhin schon angedeutet habe: Den Beweis anzutreten, dass Musik tatsächlich eine universelle Sprache ist und das funktionieren kann. Techno ist genau so ein Dialekt wie die Klassik. Wenn man aufeinander hört und versucht, sich gegenseitig zu verstehen, dann wird was draus. Vielleicht. Hoffentlich. Wer weiß!?

Carl Craig, Versus, erscheint am 5. Mai auf Infiné

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