Rewind: Klassiker, neu gehörtAlva Noto ‎– Xerrox Vol.1 (2007)

Roundtable Alva Noto - lede

Carsten Nicolai ist einer der wichtigsten Künstler der Jetztzeit. Auch, weil er sich nicht auf eine Disziplin festlegen will und kann und sie oft genug sowieso miteinander ganz bewusst vermischt, mal gegeneinander antreten lässt, mal in Einklang bringt. 2007 startete er sein „Xerrox“-Projekt. Angelegt auf insgesamt fünf Teile – drei davon sind mittlerweile veröffentlicht –, steht der Vorgang des Kopierens im Mittelpunkt. Found Sounds werden so lange durch den digitalen Häcksler geschickt, bis sie ihre eigene Identität gefunden haben und sich ihr Ursprung nicht mal mehr von Frequenz-affinen Anthropologen nachweisen oder rückverfolgen lässt. „Xerrox Vol. 1“ gilt als Meisterwerk, auf dem Nicolai schon vor zehn Jahren den geloopten Algorithmen genau den Freiraum einräumte, den sie heute im Klammergriff der großen Technologie-Firmen gerne hätten. Raabenstein und Herrmann begeben sich ein letztes Mal in die Zeitmaschine, deren Zieljahr immer mit „7“ endet. Im kommenden Jahr dreht sich dann alles um die Endziffer „8“.

Martin Raabenstein: „Xerrox“ ist ein, so Carsten Nicolai aka Alva Noto, Sample Transformer, gebaut von Christoph Brünggel. Diese Maschine verarbeitet Aufnahmen von Flughäfen, Anrufbeantworter-Schleifen, Atmos aus Hotels usw. Nicolai vertritt im Pressetext zum Release die These, dass in unserer sich konstant selbst vervielfältigenden Welt die Kopie, sooft sie auch multipliziert und dabei immer wieder zerstückelt wird, immer noch einen Teil des Ausgangsmaterials enthält. Von dieser Idee ausgehend stellt er mit seinem Konzept den Begriff des Originals auf den Kopf. Indem er bei der maschinellen Reproduktion tonaler Ereignisse die Mutation nicht nur zulässt, sondern sie geradezu sucht, behauptet er, die Ergebnisse selbst seien wieder Originale. Angelegt auf fünf Folgen ist dieses vorliegende Album das erste der Reihe. „Xerrox Vol. 1“, zehn Jahre alt – einfach nur mind over matter, oder ist da mehr drin?

Thaddeus Herrmann: Ich trete zunächst mal einen Schritt zurück. Ich hatte die Musik jahrelang nicht mehr gehört und war bei der Vorbereitung ganz außer mir vor Freude. Wie schön diese Platte ist. Warum sie mich so anspringt, ist jedem klar, der meine musikalische Sozialisation kennt. Es sind nur einige wenige Motive, die Nicolai hier fast schon auf Überlänge immer wieder durchexerziert, bzw. wie du schon richtig sagst, durchexerzieren lässt. Ich hatte kürzlich auf einer anderen Baustelle mit den künstlerischen Grundsätzen und Ideen von Nicolai zu tun – da erzählte er diese Geschichte nochmal ausführlich. Welche Rolle für ihn in der DDR damals der Fotokopierer spielte: dieses Gerät, das gleichzeitig vervielfältigt und auch immer leichte Artefakte dazu interpretiert. Genau dieses Prinzip hat er dann mit der Software nachgebaut und sich dabei die technische Überforderung der Maschinen zunutze gemacht. Ein konstanter „buffer overflow“ also, der ja auch die Rollen zwischen Schöpfer und Produktionsmitteln neu definiert. Mit dieser Idee war er sicher nicht der erste. Und es es ist mir eigentlich auch egal. Denn selbst, wenn er jedes Geräusch, jeden Ton minutiös selbst geplant und komponiert hätte, wäre mein Urteil das Gleiche: unglaublich gutes Album. An wen erinnern dich die melodischen Motive? Also das, was hinter dem Rauschen passiert?

Carsten Nicolai Porträt

Carsten Nicolai – Alva Noto. Foto: Promo

„Perfektion ist obsolet - gar langweilig.“

Martin: Zerstörung und Neuschöpfung ist ja nicht nur ein Thema in der Musik. Stefan Betke aka Pole bastelte sich zu Weltruhm, indem er die technischen Probleme seines Filters zum Prinzip seiner Kreationen erhob, der Fehler wird zum Motor der Untersuchung. Da sind wir mitten in der zeitgenössischen Ästhetik unseres Jahrhunderts. Wade Guyton, strahlender Held der New Yorker Kunstszene der Nullerjahre, ging mit seinen Schöpfungen ähnlich um, er gab seinem Drucker eine schwer zu lösende Aufgabe. Der Transportmechanismus seines Gerätes hatte aufgrund der Dicke des zu bedruckenden Materials extreme Probleme, detailgenau abzubilden – Verschiebungen entstanden. Guytons einfach gehaltene, grafische Urdaten wurden erst durch die Mutation zum interessanten Kunstwerk. Die Parallelen sind offensichtlich. Perfektion ist obsolet, gar langweilig. Warum ergötzen wir uns so derart am Schaden, an der fehlerhaften Ausführung?

„Für mich war das damals alles unbedingt zusammen zu denken: Nicolai, Ikeda, Pan Sonic – auch wenn da natürlich Welten dazwischen liegen, sowohl musikalisch als auch konzeptionell.“

Thaddeus: Im Falle von Nicolai und „Xerrox Vol. 1“ ist das zumindest aus meiner Sicht einfach zu beantworten: Weil man gar nicht unterscheiden kann, was genau der Fehler ist bzw. sein könnte. Wir haben es hier mit einem Album zu tun, das nicht nur sehr gut in die damalige Zeit passte, sondern auch viel fast schon abschließend zusammenfasste – eine Essenz subsumierte aus den langwierigen Auseinandersetzungen mit den digitalen Möglichkeiten, die in dieser Epoche erst wirklich möglich wurden. Die Tracks klingen also zunächst „normal“. Was immer das heißen mag. Mir ist bewusst, dass es das vollkommen falsche Stichwort ist. Wer sich mit dieser Art von Musik beschäftigt hat, wird hier ja nicht mehr wirklich gefordert. Und doch gelingt Nicolai etwas, wie ich finde, Einzigartiges. Kennengelernt habe ich ihn damals gar nicht auf Platte, sondern auf Konzerten, auf denen es immer eher ruff zuging. Da wollte Nicolai meinem Empfinden nach eher Pan Sonic sein – nur aus der digitalen Näherung. Natürlich konnte er das auch und hatte dabei auch noch die besseren Visuals, ein perfekt synchrones Miteinander mitunter fieser Sequenzen. Für mich war das damals alles unbedingt zusammen zu denken: Nicolai, Ikeda, Pan Sonic – auch wenn da natürlich Welten dazwischen liegen, sowohl musikalisch als auch konzeptionell. Im Ohr des irritierten Ravers passte das. Dagegen ist dies hier ja das reine Schwelgen. Als ob ihm Sakamoto während der Produktion die Hand gehalten und schon mit dem unterschriebenen Vertrag für den „The Revenant“-Soundtrack gewunken hätte.

Xerrox Vol. 1 - Cover

Martin: Der gemeinsame Release mit Ryuichi Sakamoto „Vrioon“ ist zum Erscheinungsdatum dieses Werkes ja schon fünf Jahre her.

Thaddeus: Ja krass, wie geht denn das eigentlich?

Martin: Also, als meine Mutter damals 1972 so ein aufkommendes Erziehungsproblem mit mir hatte, oder was meinst du gerade?

Thaddeus: Mein Geburtsjahr, ehm.

Martin: An unserer Kommunikation müssen wir noch ein klein wenig feilen, nach nur ein paar Jahren geteilter Lebensfreude muss das nicht notgedrungen flutschen. Anyway. Sakamoto ist ein Meister der Perfektion. Da sitzt einfach jede Falte im Schritt. Obwohl du sagst, die musikvertilgende Masse hört den Fehler in der Produktion nicht – geschenkt.

Thaddeus: Nicht die Masse, sondern ich.

„Nicolai ist ein Intellektueller, die Rückkoppelung wird Bestandteil seiner eigenen Geschichte.“

Martin: Nicolai ist ein Intellektueller, die Rückkoppelung wird Bestandteil seiner eigenen Geschichte – ein nicht existierender, aber vermisster Kopierer in seiner Jugendzeit wird zum Sinnbild kommender Produktionen. Das spiegelt sich sogar im Titel der Reihe. Ich konnte Kritiker noch nie leiden, die immer mit „vielleicht“, „eventuell“ etc. argumentierten, wage aber dennoch eine Aussage. Mit Sakamoto zu arbeiten ist wie einen Halbgott zu zeugen. Wenn der dann erfolgreich auf der Erde rumschwengelt und das macht, was so ein Halber eben so macht, warum nicht selbst an so einem Produkt arbeiten? Und da ist Nicolai eben ganz Nicolai, er bohrt am Gegenteil, im Imperfekten. Knister, Kruschel, das klingt so als hätte die Entenhausener Mutter aller deutschen Spracherfindungen, Erika Fuchs, endlich ihre musikalische Entsprechung gefunden.

Thaddeus: Die Frage aller Fragen: Warum veröffentlicht Nicolai bei raster-noton und nicht Ehapa? Das „vielleicht“ und „eventuell“ – das ist eine Musikjournalismus-Seuche. Man traut sich dann eben doch einfach oft nicht. Das muss anders werden. „Xerrox Vol. 1“ ist das beste Album von Nicolai. Beschlossen und verkündet. You heard it here first. Ich will nochmal auf meine Anfangsfrage zurückkommen. Die Melodien, Arrangement-Fragmente: die Streicher. Manno! An was erinnern die dich? Mit der Bitte um eine schnelle und präzise Antwort.

Martin: Gas, zehn Jahre älter. Wo genau möchtest du hin?

Thaddeus: Die Richtung stimmt und gleichzeitig überhaupt nicht: Im Herzen geht das aber klar. Sonst zählt ja eh nichts. „Zauberberg“ war eine Dekade zuvor, jedoch bestimmt von einer dunkleren Atmosphäre und einem dickeren Dickicht.

Martin: Du stehst auf den Busch, das Undurchdringliche.

„Das Geräusch wird von Nicolai mehrmals mit klarer Vision gemaßregelt.“

Thaddeus: Ich verstecke mich gerne im Gestrüpp, dann ist meine Argumentation auch nicht mehr so gut nachvollziehbar. Also: „Zauberberg“: dunkel, schon allein vom Titel her eindeutig besetzt. Dies hier ist zumindest über längere Passagen meinem Empfinden nach heller. Offener. Eine andere Art von Entwurf. Ich denke da an diese wunderbare Platte von Robert Lippok, die genau zwischen „Zauberberg“ und dieser hier auf raster-noton erschien: „Open Close Open“ von 2001. Lippok und Nicolai: Nachbarn. Buddys. Und Lippok sampelt Mahlers 5. Symphonie, gepaart mit den Quaken von Enten. Die Enten lässt Nicolai weg. Aber die Stimmung ist streckenweise ähnlich. Das hat etwas Hoffnungsvolles, das bei Nicolai einfach raumfahrtmäßiger klingt. Ich finde auch das Arrangement dabei wichtig und erwähnenswert. Denn Nicolai gibt immer wieder den ruppigen Wegregler. Womit für mich auch klar ist, was ihm besonders wichtig oder wichtiger im Gesamtgefüge dieser Platte ist: die Schönheit. Denn das Geräusch wird von ihm mehrmals mit klarer Vision gemaßregelt, sprich: Der Regler wird einfach rabiat runtergezogen. Und dann schimmert wieder nur das, worauf es ihm eigentlich ankommt. Dieses Gleichgewicht macht einerseits die Spannung des Platte aus, andererseits sind die Rollen klar verteilt. Wer gewinnt, wer gewinnen muss, ist eindeutig: Die Elegie des Loslassens.

Martin: Da sind wir aber ganz schnell und unwiderruflich beim Master of it All, Brian Eno, Mister Ambient. Elegisches Produzieren, das hängt mir hinten zur Hose raus wie ein Stecken schlecht Verdautes. Das ist so zickig gemeint wie gesagt. Dennoch, was macht die Alben aus, die unserem Empfinden wohltun, das Lächeln zaubern wie dreimal durch die Wohnung schlendern mit neun Rollen Klopapier?

Thaddeus: In seiner ganze Diversität sprechen wir hier ja über die Platten von Eno, die ihm noch heute als Vermächtnis anhaften. Darum geht es mir nicht, auch wenn ich den Vergleich so schlüssig wie interessant finde. Enos Flughäfen und Mondflüge sind der pure Wohlklang. Eine andere Kategorie, vielleicht – scheiße, jetzt sage ich das schon wieder – eine andere Kategorie, die das möglich gemacht hat, an der sich Nicolai hier abarbeitet. Denn Nicolais Entwürfe sind – wie kann man das am besten sagen? – überbelichtet. HDR-Dateien, deren Ursprung, aber auch Ziel im Zerwürfnis der konstanten Auseinandersetzung mit dem technisch Machbaren genau im richtigen Maße verschwimmen und so Raum lassen für die persönlichen Interpretationen, die diese Musik erst so einzigartig machen. Es ist eine Vorlage, die jeder selbst auf den eigenen Kopierer legt.

Martin: Lass uns das versuchen. „Xerrox Vol. 1“ hat auf jeden Fall heute noch einen Ehrenplatz in meiner Sammlung. In zwanzig Jahren wird man die Dinge vielleicht anders sehen. Oder auch nicht.

Xerrox Vol. 1 - Cover 02

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