Review: Apple Watch Series 6Kind Of Blue

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Man kann die Uhr danach stellen – ha! Jedes Jahr bringt Apple eine neue Version der Apple Watch auf den Markt. Die Series 6 ist die bislang beste Smart Watch aus Cupertino – in neuen Farben und mit neuen Features. Upgraden müssen hingegen nur die Wenigsten. Thaddeus Herrmann berichtet aus dem Langzeitprojekt der Selbstoptimierung.

Ende Juni 2019 saß ich mit einem Journalisten-Kollegen unweit des Londoner Picadilly Circus auf klapprigen Klappstühlen vor einem Prêt und trank Kaffee. Wir waren in Berlin viel zu früh aufgestanden, hatten uns zum TXL geschleppt, waren rüber zum LCY gedüst und hatten uns dann in der Rush Hour mit der DLR und Tube in die Hanover Street manövriert. Wir hatten zuvor noch nichts miteinander zu tun gehabt, merkten schnell, dass wir gemeinsame Bekannte hatten und plauderten. Wir warteten auf unseren Termin gegenüber, im HQ von Apple, wo wir nach einer Reihe von Briefings Oliver Schusser interviewen sollten, den Musik-Chef von Apple. Es war wahnsinnig muggy: schwül-warm, und ab und zu tröpfelte es von oben. Ein Mitarbeiter der Apple-PR saß mit am Tisch und verschickte eine iMessage nach der nächsten. Wir plauderten also und plötzlich zeigte der Kollege auf mein Handgelenk bzw. auf meine Apple Watch und fragte, wie ich die denn finden würde. Meine Uhr war im Sommer 2019 eine Series 4, die erste Apple-Uhr mit größeren Display. Ich sagte wie aus der Pistole geschossen: „Die Uhr ist mit Abstand das beste Apple-Produkt der vergangenen Jahre.“

Ich musste kürzlich wieder daran denken. Auch wegen des tollen Tagesausflugs nach London. Immerhin habe ich 2020 Berlin für insgesamt nur einen Tag verlassen, und das war im Januar. Aber warum hatte ich das gesagt? Ohne groß nachzudenken? Warum nicht iPhone? Oder zumindest iPad Pro? Die Antwort ist einfach: Die Apple Watch ist das Stück Technik, das mir mit Abstand am nahesten ist. Krabble ich morgens aus dem Bett, lege ich sie an, lege ich mich abends wieder in, kommt sie auf die Ladeschale. Sie ist immer bei mir und versorgt mich mit allen wichtigen Informationen, mit denen ich über den Tag eben versorgt werden möchte. Und sie hält mich seit Jahr und Tag auf Trapp, erinnert mich, regelmäßig aufzustehen, also nicht zu lange zu sitzen. Kennt meine Workouts und wundert sich mit einem elegant performen Vibrations-Shortie, warum ich an Tag X denn erst so und so viel Prozent meines gespeicherten Pensums absolviert habe, wo ich doch gestern schon viel früher durchgestartet war. Das ist manchmal unerbittlich. Die Tatsache jedoch, dass ich diese Funktion noch nicht ausgeschaltet habe, belegt mein ungebrochenes Verlangen, mich zu pushen – und die Zeit dafür zu finden.

Und Zeit hatte ich in den vergangenen Monaten nun wirklich mehr als genug. Was für ein Jahr. Als Berlin zumachte, niemand mehr im Büro anzutreffen war, wir unsere Redaktions-Meetings in Netz verlegt hatten, zahlreiche Jobs wegbrachen, durchwanderte ich die Stadt. Bus? Bahn? Unrealistisch, bis heute. Zum Fahrrad war ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zurückgekehrt. Ich genoss die Zeit mit mir in der Leere des Urbanen – und forderte mich jeden Tag aufs Neue heraus. Noch einen Kilometer, noch eine Runde mehr, weiter und weiter. Mittlerweile ausgestattet mit der Series 5, wuchs mir die Uhr noch weiter ans Herz. Ich tracke dich, ganz egal, was passiert. 100 Prozent des Ziels, 200, 300? Alles möglich. Und eine kleine Vibration am Handgelenk war genug Satisfaktion, um müde, latent ängstlich ob der Zukunft, aber auch müde und zufrieden ins Bett zu fallen.

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Series 6 – die neue Uhr

Seit ein paar Wochen ist nun der Nachfolger im Handel – die Series 6. Ich trage sie seit Day One. Ich müsste das gar nicht. Denn das, was ich von einer Apple Watch erwarte, ließe und lässt sich problemlos auch mit einer der Vorgänger-Versionen bewerkstelligen. Ich schätze das Always-On-Display seit 2019 sehr, bin faktisch aber nicht darauf angewiesen. Auch die EKG-Funktion der Series 5 ist technisch beeindruckend – mein Herz ist jedoch (hoffentlich) in Ordnung. Was ich vielmehr brauche, ist ein verlässlicher Begleiter an meinem Handgelenk, der mich zurückhaltend und Datenschutz-konform beobachtet. Das macht die neue Series 6 genauso gut wie ihre Vorgänger. Es gibt aber doch ein paar Neuigkeiten, über die es sich lohnt, zu berichten.

Anders als die EKG-Funktion – zertifiziert von welche Behörde auch immer in Deutschland dafür zuständig ist – ist die Messung des Blutsauerstoffs eher eine free-floating affair, also weder ausdrücklich verlässlich, noch durch irgendeine Behörde anerkannt.

Dass die Apple Watch immer mehr zum Gesundheits-Gadget wird, ist schon seit einigen Jahren offensichtlich. 2019 – wie schon erwähnt – war die Möglichkeit, ein EKG an sich selbst durchzuführen, ein großer Sprung in diese Richtung. Nun, 2020, erfolgt der nächste Schritt. Dank neuer, zusätzlicher Sensoren wird auch der Sauerstoff-Gehalt im Blut gemessen. Für viele Menschen, gerade für solche, die in Corona-Zeiten als Risiko-Gruppe eingestuft werden, ist das mehr als hilfreich – gleichzeitig aber mit Vorsicht zu genießen. Denn anders als die EKG-Funktion – zertifiziert von welche Behörde auch immer in Deutschland dafür zuständig ist – ist diese Messung eher eine free-floating affair, also weder ausdrücklich verlässlich, noch durch irgendeine Behörde anerkannt. In der Medizin gilt der Finger-Clip als verlässlichste Methode, um den Blutsauerstoff zu ermitteln. Sensoren an einer Uhr wie der Apple Watch, wo die Sensoren mit reflektiertem Licht Werte ermitteln müssen, statt auf das „Durchscheinen“ zu rekurrieren, gelten als ungenauer. Und tatsächlich sind die Messergebnisse von unterschiedlicher Qualität. Will sagen: Mal funktioniert es, mal dann aber auch eben nicht. Für die Messung sollte man den Arm still auf einen Tisch legen – die Uhr sollte gleichzeitig nicht zu weit unten am Handgelenk sitzen – und bequem, also nicht zu fest sitzen. Das ist Auslegungssache. Entsprechend „variantenreich“ sind die Ergebnisse, von „keine Ahnung“ bis hoffentlich einigermaßen korrekt.

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Die Messung des Blutsauerstoffs dauert 15 Sekunden.

Bei Apple tut man sich mit den neuen Armbändern, den „Solo Loops Bands“ dabei keinen Gefallen. Die Idee ist eigentlich gut. In unterschiedlichen Größen bietet man Bänder an, die keinen „Verschluss-Mechnismus“ mehr haben. Da will die richtige Größe natürlich gut ausgewählt sein. Die hierfür zur Verfügung stehenden Tools sind ... naja: nachbesserungswürdig. Auf der Webseite lässt sich ein PDF ausdrucken, das man – korrekt ausgeschnitten – um sein Handgelenk legen und so die vermeintlich richtige Größe bestimmen kann. Schon ein Fail eigentlich. Aber: Während der Pandemie gelten andere Gesetzmäßigkeiten. Wer will schon in einen Apple Store? Ausprobieren könnte man es dort zur Zeit wahrscheinlich eh nicht.

Dieses Solo-Loop-Armband, erhältlich als Silikonversion oder aus recyceltem Nylon, hat meine persönliche Performance ohnehin ganz gut nach unten segeln lassen. So stellt sich die Frage aller Fragen: Wie verlässlich sind die Sensoren einer Apple Watch eigentlich? Wie tight muss ein Armband wirklich sitzen, um realistische Ergebnisse zu liefern? Nichts Genaues weiß man nicht – mit den tatsächlich sehr praktischen Solo-Loop-Bändern scheint das realistische Tracking der Aktivitäten jedoch nicht mehr wirklich gewährleistet. Oder doch zum ersten Mal wirklich gut nachverfolgt? Ich habe mich jedenfalls nach ein paar Tagen wieder für eines meiner angestammten Armbänder entschieden. Festgezurrt pendelten sich die Erfolgserlebnisse so schnell wieder ein. Wie realistisch die tatsächlich sind? Es ist mir fast egal. Denn: Sobald ich sozusagen „tradierte“ Ergebnisse bekomme, fühle ich mich wohl. Und das ist eigentlich alles, was zählt.

Umso mehr freue ich ich mich über die neuen Farben. Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder gesagt, dass meine Uhr weder shiny noch blingbling sein muss bzw. auch gar nicht sein darf. Bis vor ein paar Wochen hatte ich immer ein mehr oder weniger langweiliges graues, pardon – space grey – Modell am Arm. Die Basis-Version der Apple Watch Series 6 gibt es nun auch in Rot und Blau. Letztere habe ich. Das Blau ist weder grell noch sonst irgendwas. Es ist eher ein Statement in Sachen Understatement – matt und ziemlich dunkel; auf jeden Fall unauffällig. Ganz nach meinem Geschmack: leicht akzentuiert also, aber wenig bis gar nichts wollend. Am Handgelenk fühlt sich das herrlich an. Ich schaue zum ersten Mal seit Jahren gerne an meine Linke – und freue mich einfach. Das ist kein Uhren-Fetisch, sondern einfach ein kleiner Farb-Sprengsel in einem im letzten Dreivierteljahr doch reichlich farblosen Alltag.

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Neu bei der Series 6 ist auch die verbesserte Helligkeit des Display im „Always-On“-Modus. Bis zu zweieinhalb Mal heller soll es sein – was natürlich vor allem bei Sonnenschein von Vorteil ist, wo die visibility doch oft genug die readability von Bildschirmen beeinflusst. Um ehrlich zu sein, kann ich diese Verbesserung nicht wirklich bestätigen. Aber der goldene Herbst ist ja auch schon fast vorbei und die Wolken halten Einzug.

Schlafen, waschen

Einer der größten Kritikpunkte an der Apple Watch war bislang, dass sie out of the box keine Informationen zum Schlaf lieferte. Hier musste man auf Apps von Drittanbietern zurückgreifen. Ich erinnere dieses Features sehr genau und auch als nützlich von meinen ersten Begegnungen mit FItness-Trackern von Jawbone – wirklich keine Raketentechnik. Doch ob der vergleichsweise bescheidenen Akku-Laufzeit der Apple Watch stellte sich diese Frage in den ersten Lebensjahren des Gadgets überhaupt nicht. Nachts brauchte sie Strom – und den liefert das Handgelenk leider nicht. Aktuelle Modelle der Uhr halten durchaus die Nacht durch. Die Lösung, die Apple nun für dieses Feature in watchOS 7, dem aktuellen Betriebssystem, das auch auf älteren Modellen läuft, anbietet, empfinde ich aber eher als Mogelpackung. Warum? Weil die „Schlafqualität“ nicht erfasst wird, sondern lediglich das Einhalten des vorher festgelegten Schlafpensums. Ja, die Uhr erinnert einen nun daran, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen. Ja, die Uhr vibriert einen zum vereinbarten Zeitpunkt morgens aus dem Schlaf (was sehr gut funktioniert). Wirklich nützlich jedoch finde ich das nicht. Was hingegen bestens funktioniert, ist, die Uhr dann am Morgen, während man sich im Bad fertig macht, wieder aufzuladen – die Zeit, um genug Akku für den Tag zu haben, ist selbst bei ausgeprägtem Hang zur Katzenwäsche ausreichend.

Viel praktischer und sinnvoller ist das schon die Erinnerung, sich die Hände zu waschen. So lässt sich in den Einstellungen festlegen, dass man in dem Moment, in dem man nach Hause kommt, eine Push-Benachrichtigung auf der Uhr bekommt. GPS macht es möglich. Noch besser wäre es, wenn sich mindestens zwei Locations speichern lassen würden – zum Beispiel auch die des Arbeitsplatzes. Aber: Ins Büro gehe ich in den kommenden Monaten eh nicht mehr. Die Sensoren – in Kombination mit dem Mikrofon der Uhr – merken zudem, ob man sich gerade die Hände wäscht. Auf dem Display der Watch läuft dann ein fein animierter Countdown, der nach 20 Sekunden mit einem Daumen hoch und einem Ping endet. Und ja: In den meisten Fällen funktioniert das bestens. Natürlich springt der Vorgang auch an, wenn man seine Brille über dem Waschbecken putzt oder den Abwasch erledigt – geschenkt. Kürzlich interpretierte die Series 6 auch das Aufpumpen des Hinterreifens meines Fahrrads als Waschvorgang. Das war dann schon eher skurril. Schlimm finde ich das nicht, im Gegenteil. Ich komme aus einer Generation, die in den 90er-Jahren ihren ersten Mac gekauft hat, nicht zuletzt auch deshalb, weil diese Maschinen immer so etwas wie personality hatten, in bestimmten Situationen oder Momenten einfach nicht mitmachen wollten und ihren eigenen Charakter zeigten. Natürlich sind diese Zeiten lange vorbei, ich erinnere sie aber gern – und wünsche sie mir manchmal auch zurück. Eine echte 808 ist auch besser als jedes PlugIn, aus den gleichen Gründen. Und weil ich eben aus dieser Generation komme, treiben mir solche Features immer noch die technologische Ehrfurcht in den Kopf. Wie zur Hölle kann es sein, dass meine Uhr vibriert, wenn ich nach Hause komme und mich daran erinnert, mir die Hände zu waschen? Manchmal weiß ich einfach nicht, ob ich mit der Zukunft langfristig klarkommen werde.

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Wenn man nach Hause kommt, erinnert einen die Apple Watch nun auf Wunsch an das Händewaschen.

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Während des Händewaschen zählt ein Countdown die Sekunden – nach 20 Sekunden kommt der Daumen hoch.

Eine Uhr ist eine Uhr ist eine Uhr

Was die Smart Watches angeht, kann auch 2020 kein anderer Hersteller Apple etwas vormachen. Die Apple Watch ist und bleibt die beste der smarten Kategorie. Das kleine Gadget hat seit seiner Vorstellung vor fünf Jahren eine unfassbare Entwicklung vorgelegt und sich zum Glück nach anfänglicher Orientierungslosigkeit schnell auf die besten Aspekte des technisch Möglichen konzentriert. Konkret: Gesundheit, Fitness und Push-Mitteilungen. Natürlich kann man mit der Uhr noch viel mehr anstellen. In diesem Koordinatensystem sehe ich aber die Stärken der Apple Watch. Und Apple liefert weiter, feilt an den Möglichkeiten und konsolidiert Schritt für Schritt die Verlässlichkeit des Mini-Computers am Handgelenk. Wer in den vergangenen zwei Jahren eine Apple Watch gekauft hat, braucht keine Series 6. Hebt euch das Geld für schlechte Zeiten auf, spendet es, oder holt beim Restaurant eurer Wahl ein 3-Gänge-Menü to go. Wer aber eine alte Watch hat, bekommt hier ein beeindruckendes Upgrade. Neben der Series 6 gibt es zusätzlich die Apple Watch SE. Dieses Modell verzichtet auf das Always-On-Display, die EKG- und Blutsauerstoff-Messung, kommt dafür aber mit einem aktuellen SoC daher und macht den Eintritt in das Apple-Watch-Universum noch preiswerter. Wahrscheinlich würde mir dieses Modell auch reichen. Aber das hängt immer von den persönlichen Erwartungen und Vorlieben ab. So wie es generell mit Technik eben läuft.

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