Szenen einer EheFilmkritik: „45 Years“

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Alle Fotos: Agatha A.Nitecka / 45 Years Film Ltd.

Andrew Haighs Beziehungsdrama 45 Years hätte einen Bären verdient. Der Film überzeugt durch großartige Schauspieler und eine herausragende Kameraarbeit.

Es scheint, als habe 45 Years bisher nicht die mediale Aufmerksamkeit bekommen, die dem Film eigentlich gebührt. Dies könnte sich jedoch schnell ändern, denn die Adaption von David Constantines Kurzgeschichte In Another Country gehört zu den gelungensten Arbeiten im Wettbewerb und könnte am Ende den einen oder anderen Bären ins Vereinigte Königreich holen. Kate (Charlotte Rampling) und Geoff (Tom Courtenay) stehen kurz vor ihrem fünfundvierzigsten Hochzeitstag. Was soll da noch groß schiefgehen? Kinder hat das Paar keine. Kate ist in ihren Sechzigern und hat früher als Lehrerin gearbeitet. Geoff hat schon die Siebzig überschritten und erinnert in seiner liebenswerten Tollpatschigkeit und mit seiner nuscheligen Aussprache mitunter an den Prince of Darkness Ozzy Osbourne. Dunkelheit ist das richtige Stichwort, denn Geoffs Biographie weist so einige dunkle Flecken auf, welche die vertraute und langjährige Beziehung urplötzlich auf eine harte Probe stellen. Kate war nämlich immer nur Geoffs zweite Wahl. Dies wird ihr bewusst, nachdem ihr Mann einen Brief bekommt, der ihn darüber informiert, dass die Leiche seiner ehemaligen Lebensgefährtin Katya, die bei einer gemeinsamen Bergwanderung in den Schweizer Alpen in den Tode gestürzt war, geborgen wurde. Zwar wusste Kate von der früheren Beziehung Geoffs, nicht aber um deren anhaltende Bedeutung für ihren Ehemann.

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Für seinen Spielfilm Weekend von 2011 wurde Regisseur Andrew Haighs bereits mit internationalen Filmpreisen überhäuft. Danach machte er als Regisseur, Autor und Executive Producer von HBO’s queerer Comedy-Drama-Serie Looking auf sich aufmerksam. Mit 45 Years feiert er nun eine gelungene Rückkehr auf die Kinoleinwand. 45 Years ist eine subtile Charakterstudie, die einfühlsam aber schonungslos zeigt, wie zerbrechlich und verwundbar auch langjährige Beziehungen zweier Menschen noch sind, wenn aufgesetzte Masken sich plötzlich lockern und unbequeme Fragen mit der Wahrheit beantwortet werden.
Andrew Haighs angenehm unaufgeregter und zurückhaltender Regiestil bildet das Fundament für die schauspielerischen Glanzleistungen seiner beiden Hauptdarsteller, die es wiederholt schaffen, das ganze Drama menschlicher Existenz durch kleinste mimische Regungen in den Zuschauerraum zu transportieren. Der Kameramann Lol Crawley ist jedoch die eigentliche Entdeckung des Films. Mit geringfügigen Bewegungen, subtilen Kameraschwenks und unaufdringlichen Zooms gelingt es ihm und Haigh immer wieder, mit geringsten Mitteln neue Szenenkonstellationen zu schaffen, das bereits Gesehene erneut zu verhandeln und die Beziehung der Protagonisten immer wieder zu reevaluieren. Trotzdem wirkt die Kamera niemals aufdringlich oder zieht die Aufmerksamkeit auf sich selbst, und so müsste es, auch wenn dies wohl eher unwahrscheinlich ist, am Samstagabend eigentlich heißen: Der silberne Bär für eine herausragende künstlerische Leistung geht an Lol Crawley.

45 Years, GBR 2015
Regie: Andrew Haigh

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Kurzanimation: BorderMein System kennt keine Grenzen

Wochenend-WalkmanDiesmal mit Peter Broderick, Vega und Photek