Hier und drüben, Teil 2Die Wende in Westberlin und Quakenbrück

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Über eine Mauer kann man immer aus zwei Richtungen schauen. Ost, West, Nord, Süd, von nah dran oder weiter weg. Nach den Berichten unserer zwei Wendekinder folgen hier zwei weitere Redaktions-Perspektiven zum 9. November 1989. Die eine aus der Frontstadt Westberlin, die andere aus der westdeutschen Idylle Niedersachsens.

#Im orangenen Tunnel

von Thaddeus Herrmann

Als die Mauer gefallen war, stand Herr Scholz bei uns auf der Leiter, putzte Fenster und rauchte Marlboro. Seit ich mich erinnern kann, kam Herr Scholz mehrmals im Jahr zu uns nach Hause und schrubbte die großen Scheiben frei von Vogeldreck und allem anderen, was sich darauf abgelagert hatte. Und das war einiges im siebten Stock. Er schüttelte den Kopf, murmelte etwas à la „Ick gloob es nisch“, balancierte auf der Fensterbank und hangelte sich nach draußen. Als Kind war mir dabei immer fast das Herz stehengeblieben, 1989 wusste ich schon, dass er das einfach kann.
Den Osten Berlins hatten wir zu Hause direkt vor der Nase. Mein Onkel nannte unser Wohnzimmer „Café DDR-Blick“, der Fernsehturm teilte unseren Balkon symmetrisch in zwei Teile, nachts leuchteten seine Lichter bei uns hinein und wenn der Wind günstig stand, aus Osten kam - das tat er oft -, dann war unsere 50er-Jahre-Siedlung erfüllt von einem Gemisch aus Zweitakter-Abgasen und einem mitunter beißenden Gestank der Kombinats-Schornsteine. Der Himmel glühte gelb.

Ich wuchs mit der DDR auf und kannte sie doch kaum. Das Spannendste für mich als Kind war es, wenn wir auf dem Weg in den Urlaub im Interzonen-Zug von den VoPos kontrolliert wurden. Die hatten aufklappbare Köfferchen vor die Brust geschnallt und stellten komische Fragen in einem Dialekt, den ich kaum verstand. Wirklich in der DDR, vor allem in Ost-Berlin, waren wir selten. Verwandte gab es keine und für ein Kind wenig zu entdecken. Einmal wurden wir aber beim Schwarzfahren erwischt, weil die Fahrscheine am Bahnhof einfach alle waren. Das kostete 60 Mark. D-Mark.
In West-Berlin wuchs man sehr behütet auf, alles war billig und subventioniert, und dass die Stadt irgendwann von einer Mauer beendet wurde, wäre man nur immer geradeaus gelaufen, war mir egal, ich kannte es nicht anders. Meine Familie stand politisch knapp neben dem Politbüro und bei uns in der Schule versuchten die Republikaner regelmäßig ihre Flugblätter zu verteilen. Es waren komische Zeiten.
Nachdem ich also die Nacht auf den 9. November verschlafen hatte und Herr Scholz die Fenster putzte, ging ich in die Schule. Die lag auf halben Weg zwischen unserer Wohnung und dem Brandenburger Tor und genau da gingen wir dann auch mit dem ganzen Englisch-Kurs hin. Ich muss in der 11. Klasse gewesen sein. An das, was ich dort sah, erinnere ich mich nicht mehr wirklich. Menschen vor der Mauer, auf der Mauer, Kameras. Das, was man auf dem Fernsehen kennt. Sehr, vielleicht zu abstrakt.

In den Tagen danach fand ich den Osten dann zum ersten Mal richtig scheiße. Die kleine Insel West-Berlin wurde überflutet von Menschen, die alle die Jeans trugen, die selbst bei Wit Boy niemand mehr gekauft hätte. Vor dem U-Bahnhof standen Polizisten. „Hier wird nur noch ausgestiegen, alles zu voll.“ Dass es keine Bananen mehr zu kaufen gab, war mir egal. Die mochte ich eh nicht.
Noch ein paar Tage später fand ich den Osten dann zum ersten Mal richtig gut. Da spielten die Einstürzenden Neubauten ein Konzert in der VEB Elektrokohle in Lichtenberg, wo später auch die Tekknozid-Partys stattfanden. Natürlich hatten wir keine Karten, sind aber dennoch hin. Zur Friedrichstraße, durch die Grenzkontrolle, diesen schmalen, mit orangenen Kacheln gefliesten Korridor mit den Spiegeln an der Decke. Dann eine ewige Fahrt mit der rumpeligen Tram und irgendwie schafften wir es auch wirklich rein ins Konzert. Ich habe Blixa Bargeld nie wieder so emotional erlebt. Moment mal, dachte ich, müsste der jetzt nicht eigentlich den Einkaufswagen zersägen und die Einzelteile in Richtung Kronleuchter werfen, der herrschaftlich über der Szenerie des Kulturhauses hing? Auf dem T-Shirt zum Konzert prangte das DDR-Wappen, mittig mit dem Neubauten-Logo geremixt. Das zahlten wir in Westmark, den Eintritt auch, wenn ich mich recht erinnere. 16,10 Mark. Wechselgeld bekamen wir in Ostmark zurück. Die musste mein Freund Matthias dann an der Friedrichstraße auf der Rückreise bei der Zollkontrolle auf den Tisch legen. „Die können Sie nicht ausführen“. Es war spät und die letzte S-Bahn wartete. „Dann lass ich sie hier liegen?“ Keine Antwort. Er ließ sie liegen und wir verschwanden im orange gekachelten Tunnel. Der Zöllner hatte wohl noch kein Radio gehört.

Vopos

Volkspolizei in Berlin 1989“ von SSGT F. Lee Corkran - http://www.defenseimagery.mil; VIRIN: DF-ST-91-03529. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

#Der elektronische Volkspolizist

von Jan-Peter Wulf

Wenn man sich das erste Mal daran erinnert, wo man gerade war, als man von etwas durch die Medien erfuhr, dann würde ich das als das erste große Medienereignis im Leben bezeichnen. Das war bei mir die Wende. Ich war immerhin auch schon zwölf. Als der NDR-Verkehrsfunkmoderator eine Pause machen musste, um einen Schluck Wasser zu trinken bei all den Staumeldungen in Niedersachsen, fuhren wir gerade im Auto an einen See, es war ein Samstag, 11. November. Bei uns im Nordwesten waren die Städte noch nicht zu „Trabantenstädten“ geworden, wie das damals genannt wurde. Als Genscher am 30. September in Prag auf dem Balkon stand und jemand in der Menschenmenge laut „Ruhe“ brüllte, damit er seinen berühmten Satz zu Ende bringen konnte, saß ich mit meiner kleinen Schwester bei unseren Großeltern vor dem TV-Gerät. Wir übernachteten an jenem Wochenende bei ihnen und hatten schon den ganzen Samstag damit verbracht, Nachrichten zu gucken. Für meine Großeltern war die DDR ein integraler Teil ihres Lebens. Speziell für meinen Großvater, der die DDR zeitlebens die „Ostzone“ nannte: Drei seiner damals noch lebenden vier Schwestern lebten dort. Seine vierte Schwester und meine Großmutter hatte er in Nacht-und-Nebel-Aktionen in den 1950er Jahren über die damals schon gut bewachte Grenze in den Westen gebracht.

Es bestand somit stets ein, so gut es eben ging, enger Kontakt, durch häufige wechselseitige Besuche (als Rentnern, das waren die Geschwister alle längst, wurde DDR-Bürgern ja das Reisen in den Westen gestattet). Durch Warenschmuggel in präparierten Autos, durch große, schwere Pakete, die in der Vorweihnachtszeit mit dem Fahrrad zur Post befördert wurden - immer in der Hoffnung, dass sie auch dieses Mal wieder unversehrt „drüben“ ankommen.

Paketpost gab es auch in die Gegenrichtung: Für mich als Knirps schneite allerlei Spielzeug zu Weihnachten herein, von Verwandten, die ich nicht gut oder gar nicht kannte, und das nicht so recht in meine Spielzeugwelt passen wollte: In recht farblosen Kartonagen befand sich Metallbauspielzeug aus Altenburg, das nicht zu Fisher-Price passte. Bei einem elektronischen Frage-Antwort-Spiel schloss der mir unbekannte „Volkspolizist“ auf die Frage, wer unser Freund und Helfer sei, den Stromkreis und brachte das grüne Lämpchen zum Leuchten. Andere Fragen, es muss wohl was mit DDR-Jugendorganisation zu tun gehabt haben, verstand ich erst gar nicht. Die Sandmännchenfigur hatte ich aus dem Fernsehen anders in Erinnerung. Die Kupplung der Modelleisenbahn-Waggons, die eigentlich sehr cool waren (doppelstöckig mit Innenbeleuchtung), passte nicht zu meinem System. Mein Vater besorgte einen Adapter, mit der sich eine Vereinigung zwischen Piko- und Fleischmann-Waggons völlig unproblematisch gestaltete.

Blicke ich heute darauf zurück, stelle ich fest, wie liebevoll man an mich gedacht hat, in dem Land, das ich gar nicht kannte und in das ich erst im Oktober 1990 reiste, als es schon nicht mehr existierte. An die Ereignisse des 9. November 1989 selbst hingegen habe ich keine (mediale) Erinnerung. An dem Abend fand eine unserer ersten Partys in der Klasse statt, in einer Doppelgarage, mit La-Boum-Soundtrack in der Dauerschleife und erstem unbeholfenen Engtanz mit Mädchen. Irgendjemand hatte mitbekommen, dass in Berlin Leute auf der Mauer standen, und hatte kurz die Musik aus- und das Garagenlicht angemacht, um das allen kundzutun. Er wurde schnell aufgefordert, die Musik wieder anzuschalten. Und das Licht aus.

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