Leseliste 01. Dezember 2019 – andere Medien, andere ThemenMark Fisher, 3D-Pornografie, Behrouz Boochani und Extinction Rebellion

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Jede Woche liest die Redaktion das Internet leer, um sonntäglich vier Lesestücke empfehlen zu können. Artikel, die interessant, relevant oder gar beides sind – und zum Glück abgespeichert wurden.

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Kapitalistischer Realismus

Vor zehn Jahren veröffentlichte Mark Fisher seine Streitschrift „Kapitalistischer Realismus“ – ein Standardwerk, in dem er die vom System getriebene gesellschaftliche Realität analysierte und herausarbeitet, wie mögliche Alternativen aussehen könnten. Die Akzeptanz des Ist-Zustandes, mit dem Kapitalismus als kleinstem gemeinsamen Nenner des Unwohlseins, kann es doch nicht sein. Kristoffer Cornils blickt für die Spex in einem groß angelegten Zweiteiler auf die vergangene Dekade und begutachtet, wie sich das Koordinatensystem, das Fisher 2009 offenlegte, einerseits weiter zugespitzt und andererseits auf allen Ebenen verändert hat. Die Folgen sind so eklatant wie furchterregend. Der Realismus ist vielerorts einem Surrealismus gewichen, und der popkulturelle Anker bietet keinen Halt mehr. Cornils’ Text bietet einen tiefen und unverblümten Blick auf unsere Zukunft, die gar keine mehr ist.

Handelten Bewegungen wie Occupy noch aus den richtigen Gründen und scheiterten an genau dem Grundproblem des kapitalistischen Realismus, eben keine kohärente Alternative präsentieren zu können, wird kollektive Partizipation in der westlichen Welt im Netz und auf der Straße mittlerweile als komplett entpolitisierte Spektakel aufgeführt. Schlimmer noch als im Paradebeispiel Fishers für den kapitalistischen Realismus – Live Aid! Bono! – werden nicht mehr allein Pflaster verteilt. Stattdessen gibt es zwischen absoluter Apokalypse und leeren Heilsversprechungen kein Mittelmaß mehr. Die Parole lautet: Ex oder hopp!

Mark Fisher: „Kapitalistischer Realismus“, zehn Jahre später

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3D-Pornografie

Die Fortschreibung der Mediengeschichte hängt oft im der Entwicklung der Pornografie zusammen. Das Kino, die VHS-Kassette, die DVD – beides hätte ohne den Einfluss der Erwachsenenunterhaltung nicht die Rolle in den Zeitläuften gespielt. Und was wäre die Verbreitung des Internets ohne nackte Haut und Sex gewesen? Eine rhetorische Frage. Heute gucken viele Richtung VR und CGI und auch hier spielt die Pornografie im Sinne der Demokratisierung der Produktionsmethoden einen wesentlichen Part. Auch Themen wie Deepfake, also das algorithmische und teils täuschend echte Ersetzen von Gesichtern, werden fleißig in der Community ausprobiert. Adult-Grafiken wie bei Computerspielen sind ein alter Hut. Aber mittlerweile ist es so einfach wie noch nie, 3D-Modelle für Simulationen zu erstellen, die Celebrities nachempfunden werden, aber auch Personen aus dem privaten Umfeld. Das ist natürlich eine (vor allem ethisch) andere Baustelle und sollte kritisch beobachtet werden, scheint aber nicht zu stoppen. Die Community ist groß, in denen Modelle von Ex-Freundinnen und bekannten Schauspielerinnen geteilt werden. Einige verdienen auch schon Geld damit. Und technologisch gesehen, ist das erst der Anfang. Was heute noch ruckelig und trashig wirkt, dürfte über die nächsten Jahre täuschend echt werden. Samantha Cole und Emanuel Weinberg berichten für Motherboard.

There's nothing inherently wrong with 3D-rendered porn. People have been using computer graphics to create adult content for decades. Second Life still has a large community focused on adult content, and video game assets are often modified to create porn, sometimes featuring the likeness of real actors. Sites like Pornhub are filled with 3D-rendered porn videos. But VaM and the community around it, including the 7,600 members of its active subreddit, are different because they make it relatively trivial to create a 3D model that looks like someone who exists in the real world and share it with others.

'They Can't Stop Us:' People Are Having Sex With 3D Avatars of Their Exes and Celebrities

Behrouz Boochani

Behrouz Boochani wurde 1983 in einer kurdischen Region im Iran geboren. Nach dem Studium in Teheran arbeitete er als Journalist kurdisch-iranischen Literaturzeitschrift Werya. Bis zu jenem Tag im Februar 2013, an dem die Iranischen Revolutionsgarden in die Redaktion eindrangen und gut die Hälfte der anwesenden 11 Personen verhaftete. Boochani war gerade außer Haus – und flüchtete drei Monate später aus dem Iran. Über Indonesien versuchte er nach Australien zu flüchten. Zwei Mal scheiterte er. Statt nach Australien brachten die Behörden ihn wie so viele andere auch ins Manus Regional Processing Centre. Viele haben bis heute noch nie von Australiens ausgelagerten Internierungslagern für Flüchtlinge auf Manus im Norden Papua Neuguineas und im südpazifischen Inselstaat Nauru gehört. Falls doch jemand davon gehört hat, geht das nicht selten auf Boochani. In der Einwanderungshaft schrieb er ein Buch auf dem Smartphone, das Anfang des Jahres prämiert wurde, kommunizierte mit internationalen Medien, versuchte sogar Vorlesungen als Dozent wahrzunehmen. Nun wurde er aus der Einwanderungshaft entlassen. Die Zeit hat ihn in Neuseeland zum Interview getroffen.

Ich nenne es ein Gefängnis, aber auch das trifft es nicht ganz. Denn auch im Gefängnis hat man Rechte.

"Man fühlt sich nicht mehr wie ein Mensch"

Jutta Ditfurth zerlegt Extinction Rebellion

Die Bewegung Extinction Rebellion positioniert sich als der radikale Klimaprotest. Wie schmeckt das der Linken, oder sagen wir besser, einer Linken, nämlich Jutta Ditfurth? Nun, nicht besonders: Die einstige Fundi-Spitze der Grünen nimmt XR komplett auseinander, diagnostiziert eine „politische Strategie von umwerfender Schlichtheit, Staatsgläubigkeit und Unterwerfungsbereitschaft“. Die Bewegung habe die Motive ihrer zentralen Vorbilder Gandhi und Martin Luther King mißverstanden, und überhaupt die ganze Protestgeschichte nicht kapiert. Eine Gründung aus der Retorte, ein ahistorisches Unterfangen ist Extinction Rebellion aus ihrer Sicht. Interessant: Fridays For Future ist ihrer Meinung nach da wesentlich radikaler im Sinne eines an-der-Wurzel-Packens, denn hier werde wenigstens eine Auseinandersetzung mit Staat und Kapital vollzogen.

Aber warum sich mit störrischen, unabhängigen Widerstandsbewegungen auseinandersetzen, wenn man sich eine zwar sektenhaft-pathetische, aber letztlich staatsgläubige, kapitalismusverträgliche und handzahme Bewegung basteln kann?

Extinction of Rebellion

Wochenend-WalkmanDiesmal mit Shed, Rrose und Rage Against The Machine

Teilen und herrschen: Das Kapital dressiert, der Arbeiter pariertUnderstanding Digital Capitalism IV | Teil 4