Teilen und herrschen: Das Kapital dressiert, der Arbeiter pariertUnderstanding Digital Capitalism IV | Teil 4

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Eigentlich ist das Prinzip der Arbeitsteilung ja eine super Sache. Gemeinsam schafft man mehr, und zwar in kürzerer Zeit. Das merkten auch die Großkapitalisten sehr schnell, die die Technik zum elementaren Baustein der Arbeit in den Fabriken machten – und so tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen auslösten. Kontrolle, Information und Management: Auf diesen drei Säulen fußte ab sofort die Steuerung der arbeitenden Bevölkerung. Wer hätte gedacht, dass es bei den agilen Revolutionären von heute immer noch um genau die gleichen Prinzipien geht?

Was bisher geschah:

Agiles Management ist zum Standard geworden – nicht nur bei der Entwicklung von Software, sondern auch in Agenturen, Start-ups und sogar in traditionellen Großunternehmen. Unterstützt werden die agilen Teams dabei von Software für die Organisation der agilen Arbeitsprozesse, für die Messung und Quantifizierung ihres Outputs sowie für die Überwachung der agilen Arbeitsabläufe. Das Management verschwindet dabei bzw. wird unsichtbar im Niemandsland zwischen Selbststeuerung der Teams und digitaler Überwachungstechnologie. Die Unternehmensziele werden von der agilen Revolution dabei jedoch nicht berührt – da geht es nach wie vor um velocity und control.

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Manege frei: die Dressur des Kapitals

Großprojekte wurden schon vor tausenden von Jahren erfolgreich gestemmt, der Bau der Pyramiden, der Chinesischen Mauer oder des Kölner Doms beschäftigten Tausende über Jahrzehnte und brachten oft die besten Spezialisten vieler unterschiedlicher Gewerke an einem Ort zusammen. Allerdings gingen diese „Projekte“ soweit bekannt ohne Projektmanager, Gantt-Charts oder daily standups über die Bühne. Ihnen ist allerdings gemeinsam, dass sie unter sozialen Bedingungen stattfanden, die wir heute als Zwangsarbeit bezeichnen würden: Sie wurden von Sklaven oder Leibeigenen erledigt. Diese vorkapitalistischen Projekte kannten auch keinen allgemeinen Zwang zur Rationalisierung, keine Marktkonkurrenz durch Mitbewerber oder marktgetriebenen Innovationsdruck – twice as fast war damals noch kein Thema, es ging insgesamt eher gemächlich zu.

Auch die Werkstätten des Frühkapitalismus waren noch Ansammlungen kleinerer Produktionseinheiten von überschaubarer Dimension, die Figur des Managers war in der Anfangszeit des Kapitalismus noch nicht in Sicht. In diesen Manufakturen blieb die Arbeit auch unter unmittelbarer Kontrolle der Produzenten, die unter nur geringfügigen Änderungen traditionelle Methoden weiter betrieben. Die große Industrie und mit ihr die Fabrik als spezieller Ort der Produktion und der Ausbeutung geht aus der Manufaktur erst allmählich hervor. Auch ästhetisch sahen die Tempel der neuen Kapitalvermehrung zunächst aus wie Schlösser oder Burgen, bevor die aufstrebende Bourgeoisie ihren eigenen Stil fand.

Aber auch der freie Lohnarbeiter, der lebendige Rohstoff des industriellen Kapitalismus, fiel nicht vom Himmel. Der Übergang zum formal freien Arbeitnehmer, der Vertrags- und Bewegungsfreiheit genießt, geschah in der Frühzeit des Kapitalismus keinesfalls schlagartig und insbesondere nicht gewaltfrei. Nicht zufällig siedelte sich z.B. die Textilindustrie in England bevorzugt in der Nähe von Gefängnissen, Arbeits- und Waisenhäusern an. Karl Marx widmet der gewaltsamen Entwurzelung ganzer Bevölkerungen, um sie hernach in den Fabriken ausbeuten zu können, ein ganzes Kapitel in seinem Hauptwerk „Das Kapital“; er nennt diesen Prozess „ursprüngliche Akkumulation“. Doch auch eine Art kulturelle Umschulung musste erst stattfinden. Es dauerte Generationen, bis die Proletarier ohne Peitscheneinsatz jeden Morgen „freiwillig“ bereit waren, zu nachtschlafender Zeit auf der Matte zu stehen. Neue Rollen mussten erfunden, geübt und schließlich internalisiert werden – eine titanische Aufgabe für das Change-Management zu Zeiten der Industrialisierung und gleichzeitig die Geburtsstunde einer durchaus militärisch geprägten Disziplin. Das Industrieproletariat mit seinem Arbeitsethos, seinen Organisationen und Kulturen musste erst geformt werden und formte sich gleichzeitig selbst. Der Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe beschreibt den doppelten Vorgang des Werdens hin zur Arbeiterklasse folgendermaßen:

„Das „Proletariat“ ist demnach, in aller Kürze, das Ergebnis eines sozialhistorischen Prozesses der Proletarisierung und des politischen Akts einer Subjektivierung, einer politischen Identifizierung mit der eigenen Proletarisierung.“

(Poesie der Klasse, Matthes & Seitz 2018)

„Take back control“

Das schöne Wort Management enthält das lateinische manus, Hand, und leitet sich direkt vom französischen manège ab, das im Deutschen als Manege geläufig ist. In der (Zirkus)-Manege werden Tiere an der Leine herumgeführt, gezähmt, zugerichtet und dressiert. Die ursprüngliche Wortbedeutung ist also nicht besonders schmeichelhaft – weder für die Disziplin selbst, noch für deren Dompteure, ganz zu schweigen von den Dressierten: Beim Management geht es schlicht um die Beherrschung und Zurichtung der Arbeiterinnen und Arbeiter im Dienste des Kapitals. Der große marxistische Theoretiker Harry Braverman, der insbesondere durch seine Untersuchung der Entwertung der Arbeit im Taylorismus bekannt ist, formulierte das im Jahre 1974 geradezu poetisch:

“Like a rider who users reins, bridle, spurs carrot, whip, and training from birth to impose his will, the capitalist strives, through management, to control.” – „Wie ein Reiter, der von Geburt an Zügel, Zaumzeug, Sporen, Zuckerstück, Peitsche und Training benutzt, um seinen Willen durchzusetzen, ist der Kapitalist bemüht, mit Hilfe des Managements zu kontrollieren.“

Control ist also die Kernaktivität des Managements, das aus dem Englischen mit Kontrolle nur unzureichend übersetzt ist, es enthält gleich vier unterschiedliche Bedeutungsfelder, die erst in ihrer Kombination und Überlagerung den gesamten Bedeutungsrahmen aufzuspannen vermögen:

  1. Um Kontrolle im Sinne einer nachträglichen Überprüfung von Ergebnissen geht es bei control gar nicht in erster Linie, also etwa um die Kontrolle von Ausweisen wie bei einer Grenzkontrolle oder von Arbeitsergebnissen wie bei einer Qualitätskontrolle.

  2. Control beinhaltet auch das ständige Bewachen und Prüfen, das Monitoring von Prozessen in Echtzeit. Diese Bedeutung ist im Deutschen etwa als Begriff „Kontrollgesellschaft“ geläufig, der fast synonym mit Überwachungsgesellschaft verwendet wird.

  3. Control bedeutet auch schlicht und einfach Beherrschung, Herrschaft, das Ruder in der Hand halten. „Take back control“, die Losung der brexiteers (Bezeichnung für diejenigen, die dafür sind, dass das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlässt), fordert ja nicht mehr Kompetenzen für ein nachträgliches Kontrollieren bzw. Überprüfen von wirtschaftlichen oder politischen Entscheidungen ein. Es geht – so jedenfalls die ideologische Figur – vielmehr um die Wiedererlangung der Souveränität, um eine Überwindung der Abhängigkeit von der EU-Bürokratie, darum, das Ruder (wieder) zu übernehmen, und zu alter Größe und Machtfülle zurück zu gelangen.

  4. Control bedeutet nicht zuletzt auch die Steuerung eines Prozesses oder einer Maschine. Control ist auch der Schlüsselbegriff der Kybernetik, der Wissenschaft von den Regelungs- und Steuerungsprozessen. Der sowjetische Mathematiker Andrey Nikolaevich Kolmogorov definiert sie darum auch als Kontrollwissenschaft:

„Science concerned with the study of systems of any nature which are capable of receiving, storing and processing information so as to use it for control.“ – „Wissenschaft, die sich mit der Untersuchung von Systemen jeglicher Art befasst, die in der Lage sind, Informationen zu empfangen, zu speichern und zu verarbeiten, um sie zur Steuerung zu verwenden.“

Die enge Verwandtschaft von Steuerung (einer Maschine) und Herrschaft wird im Namen der Disziplin selbst deutlich, in den Worten Norbert Wieners:

„Dieser Name bedeutet die Kunst des Piloten oder Steuermannes, griechisch κυβερνήτης, lateinisch gubernator; der Stamm findet sich auch im englischen governor, das in der Ingenieurwissenschaft den Regler einer Maschine bezeichnet.“

Entscheidend für erfolgreiches Steuern ist geeigneter Informationsfluss. Informationen aus dem System selbst werden idealerweise zur Steuerung verwendet, in dieses rückgekoppelt, um einen Feedback-Loop zu erzielen: Selbststeuerung ist das Ziel – ganz wie bei den agilen Prozessen unserer Tage. Control ist deshalb der zentrale Begriff der Kybernetik, der Wissenschaft von der Steuerung von Prozessen in Natur und Technik – der Feedback-Loop ist einer von information und control.

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Foto: ChiralJon via Flickr. Lizenz: CC BY 2.0

Kybernetik und Management: zwei Control-Disziplinen par excellence.

Mit der kapitalistischen Fabrik bildet sich eine Form der Arbeitsteilung heraus, die historisch einmalig ist. Die Rede ist nicht von der zwischen Bäcker und Friseurin, Bäuerin und Händler, oder nach Geschlechtern, in Familien, nach Zünften, Berufen etc. Diese „gesellschaftliche Arbeitsteilung“ in unterschiedliche Gewerke und Spezialisierungen tritt in allen bekannten Gesellschaften auf; im Kapitalismus kommt jedoch noch eine weitere hinzu: die Arbeitsteilung innerhalb der Fabrik, die Zerstückelung von Arbeitsabläufen in einzelne Arbeitsschritte, die zudem noch auf unterschiedliche Personen verteilt werden. Oder mit den Worten Harry Bravermans „die Zerlegung des zur Herstellung eines Produktes erforderlichen Arbeitsprozesses in eine Vielzahl von Verrichtungen, die von verschiedenen Arbeitern erledigt werden.”

Erst mit der zweiten Form, der kapitalistischen Arbeitsteilung in der Fabrik, schlägt auch die Stunde des Managements. Adam Smith, der Klassiker der Ökonomie, hält die Arbeitsteilung gar für eine der größten Erfindungen der Menschheit. In seinem Hauptwerk „Der Reichtum der Nationen“ nennt er drei Vorteile der Arbeitsteilung:

  • Die Zunahme an Geschick des einzelnen Arbeiters, der sich auf eine spezifische Aufgabe konzentrieren kann
  • Die Zeitersparnis, die beim Wegfall des Wechsels von einer Tätigkeit zur nächsten anfällt, und
  • Die Erfindung und der Einsatz von Maschinen, die den Einzelnen befähigen, ein Vielfaches produktiver zu werden.

Eine der berühmtesten Stellen aus der ökonomischen Literatur ist eine Feier der Arbeitsteilung – Adam Smiths Nägel-Beispiel. Achtzehn verschiedene Verrichtungen zählt Smith, die auf zehn unterschiedlichen Personen aufgeteilt werden, und zum sagenhaften output von sage und schreibe 48.000 Nägeln pro Schicht führt:

„Der eine zieht den Draht, ein anderer streckt ihn, ein dritter schneidet ihn ab, ein vierter spitzt ihn zu, ein fünfter schleift ihn am oberen Ende, wo der Kopf angesetzt wird; die Herstellung des Kopfes erfordert zwei oder drei verschiedene Tätigkeiten; das Ansetzen derselben ist eine besondere Tätigkeit, das Weißglühen der Nadeln eine andere; ja sogar das Einlegen der Nadeln in Papier bildet ein Gewerbe für sich.“

Ein entscheidender Vorteil der kapitalistischen Arbeitsteilung ist Adam Smith allerdings entgangen, nicht jedoch seinem Zeitgenossen Charles Babbage. Der berühmte Fabrikant, Ökonom und Erfinder, der als erster versucht hatte, einen mechanischen Computer zu bauen (und damit gescheitert ist), beschreibt das seither nach ihm benannte Prinzip folgendermaßen:

„Durch die Aufteilung der auszuführenden Arbeit in verschiedene Prozesse, die jeweils ein unterschiedliches Maß an Geschick oder Kraft erfordern, kann der industrielle Unternehmer genau die Menge von beiden beschaffen, die für jeden Prozess erforderlich ist.“

Das Babbage-Prinzip besagt im Kern, dass die Aufspaltung des Arbeitsprozesses in Teile, die unterschiedliche Fähigkeiten erfordern, das notwendige Qualifikationsniveau im Schnitt senkt und damit die Lohnkosten. Harry Braverman hält das Babbage-Prinzip gar für das „allgemeine Gesetz der kapitalistischen Arbeitsteilung“.

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Charles Babbage. Lizenz: CC BY 4.0

Arbeitsteilung und die feinen Unterschiede

Als Folge des Babbage-Prinzips entsteht erst die extreme Bandbreite an Hand- und Kopflangern (Bertolt Brecht) für das Kapital, vom bestbezahlten Spezialisten bis zum ärmsten Hilfsarbeiter. Die kapitalistische Arbeitsteilung formt nicht nur die Arbeitsprozesse, die Arbeiter selbst werden fragmentiert in Lohngruppen, Milieus, Unterklassen. Sie erst schafft Fraktionen der Arbeiterklasse und daraus abgeleitete proletarische Subkulturen. Die feinen Unterschiede (Pierre Bourdieu) in der Lebenswelt der Arbeiterklasse finden hier ihren Ursprung. Das Babbage-Prinzip formt Arbeit, Arbeiter und Bevölkerung zugleich. Und spart damit nicht nur viel Geld, sondern fraktioniert auch die Arbeiterklasse selbst in immer feinere Untergliederung, Dutzende Lohngruppen, Spezialisierungen usw.

Selbst heute noch wacht z.B. die IG Metall über die Definition von nicht weniger als zehn Lohngruppen in der Metallindustrie, geordnet nach Komplexität der Arbeit. Zwischen der Bezahlung, dem sozialen Status, dem Lebensstil der Angehörigen der Lohngruppe 1 und der Lohngruppe X – das dürfte offensichtlich sein – liegen Welten, der kapitalistischen Arbeitsteilung sei Dank.

Lohngruppe I: Arbeiten, die nach kurzfristiger Einarbeitungszeit und Unterweisung ausgeführt werden.

Lohngruppe X: Hochwertigste Facharbeiten, die überragendes Können, völlige Selbständigkeit, Dispositionsvermögen, umfassendes Verantwortungsbewusstsein und entsprechende theoretische Kenntnisse voraussetzen.

Kein Wunder auch, dass dieses System Diskriminierung Tür und Tor öffnet. Der Kampf gegen unterschiedliche Bezahlung, Behandlung und Eingruppierung von Frauen und Männern hält bis heute an, erst 1988 konnten die Tarifpartner dazu gezwungen werden, die sogenannten „Leichtlohngruppen“ abzuschaffen, auch die Gewerkschaften hielten lange Zeit die Logik vom „schwächeren Geschlecht“, das demzufolge auch „leichteren Lohn“ bekommen soll, aufrecht und erwiesen sich auch hier als „Co-Manager“ der kapitalistischen Arbeitsteilung.

Nächstes Mal bei UDC:
Das Babbage-Prinzip konnte erst Anfang des letzten Jahrhunderts zur vollen Blüte kommen, als es zum Kern des „wissenschaftlichen Managements“ eines Frederick Winslow Taylor werden sollte.

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Foto: Kampf gegen die „Arbeitsteilung“ bei der Bezahlung (Q: Rote 1. Mai-Zeitung Nr. 2, Berlin 28.4.1970, via Mao Projekt)

Leseliste 01. Dezember 2019 – andere Medien, andere ThemenMark Fisher, 3D-Pornografie, Behrouz Boochani und Extinction Rebellion

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