Pageturner – Januar 2025: Zukünftige GegenwartenLiteratur von Sascha Reh, Zara Zerbe und Ariana Zustra

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Wie die KI Berlin übernimmt und was derweil in Brandenburg passiert, imaginiert Sascha Reh in „Biotopia“. Zara Zerbe liefert derweil mit „Phytopia Plus“ ein wichtigen Beitrag zur literarischen Auseinandersetzung mit dem Klimawandel. Und Ariana Zustra zeigt in „Tot oder lebendig“, was passiert, wenn der Millenial-Weltschmerz plötzlich mit einer echten Aufgabe ausgebremst wird. Drei mal Fringe ohne Cringe.

Pageturner Januar 2025 Sascha Reh – Biotopia Artwork

Biotopia (Affiliate-Link)

Sascha Reh – Biotopia (Schöffling & Co, 2024)

Am Puls der Zeit und doch „gegen die Zeit“ spekulativ anschreiben zu können: Wie das geht, hat Sascha Reh mit seinem gleichnamigen Debüt über das sozialistisch-utopische, aber bis zur nachfolgenden Diktatur tatsächlich real existierende „Cybersyn“-Projekt zur kybernetischen Steuerung und Automatisierung der chilenischen Wirtschaft in den frühen Siebziger Jahren schon einmal gezeigt. „Biotopia“ extrapoliert nun ein paar Jahre weniger weit in die Zukunft. In ein Berlin, das zwischen heimeliger Öko-Neobürgerlichkeit und privatwirtschaftlicher KI-Kontrolle kaum noch Freiräume bietet, dessen ungeregelte und ökonomisch nicht einzuhegenden Menschen nach Brandenburg zoniert wurden, wo all die Zahlungsunfähigen und Instabilen, die Althippies und Querdenker, die Prepper und Neonazis sich selbst überlassen sind und in Trailerparks, Kommunen, Kolonien und Weltkriegsbunkern mehr überleben als leben. Eine entscheidende Instanz, die dieses fein austarierte System der Ein- und Ausschlüsse am laufen hält, ist das Biotopia des Titels, eine vertikale Farm auf dem Tempelhofer Feld, ein geschlossenes und auch hier wieder automatisiertes, selbst erhaltendes System, welches rapide beschleunigt Lebensmittel und andere Bedarfsartikel für die Stadt herstellt.

Doch wie ein Zwischenfall, der die ganze Stadt in Aufruhr versetzt, klar macht, herrscht in der schönen Nachhaltigkeits-Utopie doch wieder nur die gute alte Ausbeutung von rechtlosen Migranten, Ungelernten und Insolventen – nur eben von KI gesteuert und auf ultimative Effizienz hin optimiert. Als das Geschäftsmodell auffliegt, reagiert das lässige Start-Up-Unternehmen wenig entspannt. Dabei wird dann schnell klar, wie erpressbar und verletzlich sich Individuen, Städte und Staaten machen, wenn sie aus Kostengründen und Bequemlichkeit die Kontrolle über ihr Leben abgeben, wenn all die kleinen KI-Helferlein nicht mehr wollen. Nicht, dass es in den autonomen Gebieten außerhalb irgendwie besser wäre, wo in postapokalyptisch anmutendem Zerfall weitgehend das Recht des Stärkeren herrscht.

Reh verbindet die beiden separaten Welten über die Erzählerin, die drinnen Ermittlerin für den nur noch formal agierenden, letztlich entscheidungsunfähig kalt gestellten Senat ist und nach draußen ausweichen muss, um den unangenehmen Wahrheiten von drinnen auf die Spur zu kommen. Das gelingt in einem üppigen, sich langsam entfaltenden Nahe-Zukunft-Thriller, solide erzählt, wenn auch nicht allzu elegant. Doch die Aha-Effekte klicken regelmäßig: Die Wirklichkeit, die sich hinter den glänzenden Fassaden drinnen und dem schäbigen Draußen verbirgt, ist meist noch unerfreulicher als erwartet. Fremdgesteuerte Extrem-Optimierung und paranoide Subsistenzwirtschaft sind keine lebenswerten Alternativen.

Pageturner Januar 2025 Zara Zerbe – Phytopia Plus Artwork

Phytopia Plus (Affiliate-Link)

Zara Zerbe – Phytopia Plus (Verbrecher Verlag, 2024)

Kluge Klimawandel-Spekulationen kann es nicht genug geben. Das Thema ist definitiv nicht auserzählt. Und was die aus Hamburg stammende, in Kiel lebende Zara Zerbe in „Phytopia Plus“ aus dem Thema macht, ist definitiv eine Bereicherung sowohl des Genres als auch der Diskussion selbst. Angelegt als leicht kapitalozänkritische Dystopie, mit der Popkultur des zwanzigstem Jahrhundert angereichert – nicht unerhebliche Rollen spielen die soziovisionären Texte Simone Weils und der Soundtrack zum Film „Absolute Giganten“ – und in punkig-deftigem Ton erzählt, verbindet Zerbes Romandebüt einige typische Themen der jüngeren Klimakrisenspekulation mit anderen zu einem originellen Hybrid.

Naheliegend gibt es die selbstverstärkende Dynamik der Abschottung und Trennung von Arm und Reich, von geschlossenen bewachten Hi-Tech-Enklaven und Vernachlässigung der ausgeschlossenen Menschen und dem Verfall preisgegebener Infrastruktur. Zudem noch pflanzliche Gentechnik und Datenspeicherung in biologischen Matrizen, alles schon heute Dinge an denen geforscht wird, sowie die offenbar immer junge ewige Sehnsucht der Wohlhabenden und Mächtigen nach Unsterblichkeit, hier in der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts schon etwas spekulativer als Erinnerungsspeicherung in Pflanzen realisiert. Aber auch die ausgespielte Variante vom Bewusstseins-Upload in pflanzlicher DNA kommt ziemlich bodenständig daher, vor allem im Vergleich mit Sheila Hetis jüngster kryptognostischer Esoterik-Vision vom Menschenleben in einem Blatt. Es ist schon mehr als erfreulich, dass spekulative Genreliteratur auch in deutscher Sprache, auch abseits des Schwarm-Mainstreams prächtig wachsen und gedeihen kann, oder ganz im Sinne von Zerbes Text: ausgewildert.

Pageturner Januar 2025 Ariana Zustra – Tot oder lebendig Artwork

Tot oder lebendig (Affiliate-Link)

Ariana Zustra – Tot oder lebendig (Frankfurter Verlagsanstalt, 2023)

Erst ist da flapsig-mittelernster Millenial-Weltschmerz und larmoyanter Lebensüberdruss. Dreißigster Geburtstag, womöglich doch noch erwachsen werden müssen, bloß nie so sein wie alle anderen, aber doch irgendwie dazugehören, reinpassen, nichts auf die Reihe kriegen und doch immer so weitermachen. Schöne Aussichten, so weit so normal. Aber es gibt da noch leichte Irritationen, tendenzielle Selbstsabotage und Blackouts. Der Zufall bringt die Erzählerin dann zu einer Hypnotiseurin, die eine einfache Erklärung für die milde toxisch männlichen Verhaltensmuster und Aussetzer hat: Reinkarnation, was sonst. Reinkarnation eines ashkenasisch-jüdischen Mannes, der in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts in Ragusa lebte. Weil sie eh nichts besseres vorhat mit ihrem Leben, reist die Erzählerin nach Dubrovnik, wie die Stadt heute heißt, und findet: Geschichte. Findet einen der weniger bekannten Schauplatz der Shoah. Findet aber auch aktuelles jüdisches Leben in einer von Touristen überfüllten kroatischen Kleinstadt.

Gegen das Gewicht des historischen Themas bleibt der Tonfall der Erzählerin aber weiter selbstironisch und betont sonnenbrillenlässig, wenn auch nicht mehr so schwermütig leicht wie zu Beginn. Denn nun hat sie ein Projekt, eine Aufgabe – herauszufinden, was passiert ist. Ariana Zustras Debütroman „tot oder lebendig“ ist also ein wenig, aber dann doch nicht so ganz eine der „Spurensuchen“ der deutschen Enkel- und Urenkelgeneration. Da steht nämlich eine sich selbst nicht allzu ernst nehmende emotionale Distanz dazwischen, die sich generationsklischeekonform erst mal vorwiegend mit sich selbst beschäftigt, bevor sie sich für andere und ihre Geschichte(n) interessiert. Das macht den Roman deutlich schlüssiger und spannender, als es die eher krude Kombination von quasi-dokumentarischer Shoah-Aufarbeitung und feministisch-humoristisch getöntem spätjugendlichem Frühsarkasmus ahnen lässt. Und einfache Antworten, was es nun mit der Identität und der Zugehörigkeit auf sich hat, gibt der Roman auch nicht. Also alles richtig gemacht.

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