Fragmente einer GroßstadtFaulheit im Krisengebiet

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Es sollte nur ein Urlaub in der Idylle sein. Was es dann auch blieb, trotz allem. Eine Dystopie namens Mecklenburg-Vorpommern.

Trotz Reisewarnung wagten wir uns vergangenes Wochenende ins Krisengebiet Mecklenburg-Vorpommern.

Geplant war der Kurzurlaub schon lange. 18 junge Menschen, 3 Tage, 1 Haus an der Ostsee im beschaulichen Nonnendorf zwischen Greifswald und Wolgast, kurz vor der Ferieninsel Usedom. Wir kennen uns noch aus Nürnberger Studienzeiten und kommen einmal pro Jahr aus unseren Wahlheimat-Städten – hauptsächlich Berlin, Hamburg und Leipzig – zusammen, um unsere Bekanntschaft zu zelebrieren und die gegenseitige Sehnsucht zu stillen. Auch ein bisschen, um uns in die gute, unbeschwerte Zeit des Studierens zurück katapultieren zu lassen, wo irgendwie alles erlaubt war.

Nun kurz vor der „Studienfahrt“ die noch frischen Wahlergebnisse der Landtagswahl in MVP. Am Tag vor der Anreise wurden im Netz Reisewarnungen veröffentlicht – Listen, auf denen die Stimmen der AfD und der NPD addiert wurden und somit zusammen das „Gefahrengebiet“ zwischen 32 und 52 Prozent erreichten. Diese Zahlen sprechen für sich, auch wenn die Aktion vielleicht etwas anti-propagandistisch ist. Nun ja, erschüttert vom Ergebnis waren wir allemal. Aber von der Idee, den Urlaub sausen zu lassen, um das Land zu boykottieren, waren wir weit entfernt.

Der Berlin-Bus debattierte auf der Fahrt noch scherzhaft über die ausgegebene Warnung, um bald von hässlichen blau-roten und braunen Realitäten auf Meck-Pomms Straßen eingeholt zu werden. Überall die ekelhaftesten Statements am Wegrand. Je näher wir unserem idyllischen Feriendomizil kamen, desto einseitiger wurden die Botschaften. Es war, als ob hier nur zwei Parteien existierten. Als ob die einzige Alternative zur NPD die Alternative für Deutschland war. Wie im schlechten Traum schrien diese Zeilen uns hämisch grinsend an: „Herzlich Willkommen im Urlaub!“. Auf welche Idee kommen Gestalter in solchen Situationen? Wir sollten uns neben Spaß als Ziel für das Wochenende setzen, Botschaften zu hinterlassen auf den Plakaten. Mit Witz und Ästhetik. Nicht platt mit Edding beschmieren, sondern visuell ansprechend verschandeln.

In Empfang nahm uns der Vermieter Horst. Er war recht nett und zeigte uns geduldig unser Haus mit allen Zimmerchen. Keiner von uns wollte ihn auf die Wahlergebnisse ansprechen und dem Wochenende Steine in den Weg legen. Und doch pochte die Frage nach der Gesinnung von Horst und allen Menschen, denen man von nun an dort begegnete, in unseren Köpfen. Die Teenie-Tochter unserer dauerhaft dort lebenden Nachbarn hatte rote Dreadlocks, fuhr, wie sie uns später erzählte, voll auf Nirwana, Jefferson Airplane, Morrissey und Goa ab … und führte einen weißen, reinrassigen Pitbull Gassi. Das war der Familienhund.

Wir hatten gleich unser Image als Hipster in Schwarz weg. Einer von uns hatte dunkle Locken und Bart, verbrachte kürzlich sechs Monate in Jerusalem und war dementsprechend gut geteint. Heartly welcoming words von der Nachbarsfrau an ihn: „Mensch, du bist ja schwarz! Wo kommst du denn her?“ War das schon Fremdenfeindlichkeit oder noch schlechter Witz? So fließend die Grenze bei dieser Angelegenheit war, so sehr wünschten sie sich doch klare deutsche Grenzen. Oder? Wir fragten sie nicht. Aber mit ihren Schubladen schlossen sich auch unsere. Ganz schnell waren alle verstaut.

Hier und da gab es das ein oder andere belanglose Gespräch zwischen den Nachbarn und uns. Doch niemand traute sich, sie auf ihre politische Gesinnung oder auch nur auf die Wahlen anzusprechen. Den Pitbull zu streicheln war das höchste Maß an Mut, und das bewies auch nur einer von uns.

Warum sind wir so vorsichtig? Warum sind wir so taten- und aggressionsunlustig? Nun sind die Wahlen vorbei und man kann eh nichts mehr ändern? Umstimmen werden wir sie sowieso nicht? Wir leben in unserer ziemlich kommoden Blase und sind scheu wie Rehe, wenn es darum geht, außerhalb einer Demonstration Stellung zu beziehen. Schrecklich finden wir diese Meinungsbilder. Ekelhaft diese Kommentare. Hässlich diese Plakate. Aber Dampf lassen wir nur untereinander ab, teilen wir doch sowieso dieselbe Meinung.

Ist es Faulheit oder Angst (beides erbärmlich, aber Ersteres noch etwas schlimmer)? Angst sollten wir in dem Fall vor allem vor uns selbst bekommen. Weil wir jetzt noch still dasitzen und uns zwar aufregen, aber die anderen machen lassen und hoffen, dass die Menschheit einfach doch nicht ganz so dumm sein kann. Um dann irgendwann geweckt zu werden von der ach so unerwarteten, unglaublichen Wahrheit: Ist sie doch.

Anstatt uns für etwas Besseres zu halten, wäre es angebracht, uns unsere eigene Dummheit einzugestehen. Ganz schön dumm, dass wir zu faul waren, die hässlichen Slogans anzutasten. Können wir bitte sofort mit Papier, Schere, Kleber und Stift zurückfahren und das nachholen?

Kristina Wedel ist freie Illustratorin und lebt in Berlin-Neukölln. Wo andere ihre Smartphones mit nie wieder angesehenen Fotos füllen, hält sie ihren Stift – vorzugsweise einen einfachen, schwarzen Muji-Pen – bereit und zeichnet jene Eigenarten des urbanen Alltags, die sich nicht so leicht ablichten lassen. Für Das Filter erzählt sie jeden zweiten Mittwoch die Geschichten hinter ihren Bildern.

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