Orange is the New WineNaturwein probt den Aufstand im Glas

Orange Wine

Die immer populärer werdenden Craft-Biere haben den Status Quo der Großbrauereien in den letzten Jahren erfolgreich in Frage gestellt. Mehr Abwechslung im Glas gibt es heute immer öfter und an immer mehr Zapfhähnen. Aber wie sieht es in den Keltereien aus? Stichwort Naturwein. Hier ziehen sich Winzer radikal aus dem Herstellungsprozess zurück und überlassen Mutter Natur die Entscheidung über das Produkt, nicht nur, was den Geschmack angeht. Jan-Peter Wulf hat sich in der vielfältigen und mitunter leicht esoterisch anmutenden Szene umgesehen. Oder besser: umgetrunken.

Berlin-Treptow, riesiger Hinterhof mit abgängigem LKW-Carport, darunter viele junge hippe Menschen und seltsame elektronische Musik. End of story? Nein, weil alle trinken Wein. Den sieht man sonst selten in Berlin, wenn junge hippe Menschen sich in Berliner Hinterhöfen zu seltsamer elektronischer Musik versammeln. Höchstens, wenn sie sich treffen, um sich irgendwo Kunst anzuschauen oder den Vorwand der Vernissage nutzen, kostenlos Wein trinken zu können. Hier geht es tatsächlich primär um Wein. „Winerush“ heißt das Event und ist ein Weinfest. Oder sollte man sagen: ein Anti-Weinfest? Denn in die Gläser kommt kein Wein, sondern Naturwein, hippstes Getränk der Stadt (Definition folgt). Einer der Veranstalter, Florian Tonello heißt er, sieht mit langen Haaren und Batikshirt auch nicht gerade aus wie ein Mensch aus dem Wein-Business. Aber er ist einer, und seine Naturwein-Kollektion, die „Ladidadi“ heißt, kommt aus dem Anbaugebiet Nicht-Bordeaux.

„Der Wein kommt aus Nicht-Bordeaux. Wir wollen mit Bordeaux rein gar nichts zu tun haben. Herkömmlicher Wein ist ein Industrieprodukt und wird unter kommerziellen Gesichtspunkten gemacht. Wir hingegen versuchen eine neue und bessere Alternative zu etablieren.“

Naturwein, das sei eine große Familie, findet er. Eine, die sich gegen das Establishment in der Weinwelt auflehnt. Klingt gut. Aber was zum Teufel ist dieser Naturwein denn nun genau? Der Name hat was Interessantes, was Anderes und auch bisschen was Ekliges. Der britischen Weinautor Andrew Jefford hat eine knackige Definition formuliert, die in der aktuellen Naturwein-Ausgabe des Weinmagazins „Schluck“ zu lesen ist:

„Als Naturwein bezeichnet man die Weine, die aus Trauben biologischer oder biodynamischer Anbaugebiete handwerklich hergestellt werden.“

Ach so: Biowein, ja? Jein. Nein. Zwar wird Naturwein, wie der Biowein, der in unseren Bio- und Nicht-Biomärkten steht, biologisch-organisch produziert. Aber er geht weit darüber hinaus: Während die Trauben für Bioweine im Weinberg, das erlauben die EU-Richtlinien, immer noch mit einigen Schutzmitteln versehen werden dürfen – zum Beispiel Kupfer, einem Schwermetall, das nicht nur teuer ist, sondern auch den Boden belastet –, lassen Naturwinzer, die etwas auf sich halten, nichts ran, was die Chemikanten der Branche bereitstellen. Industrielle Reinzuchthefen sind verpönt, man setzt auf die archaische Spontanvergärung mit wilden Hefen, die im Keller leben. Ein echter Naturwinzer geht mit Esel und Stute zwischen die Reben statt mit modernem Fuhrpark und greift zu unorthodoxen Methoden wie dem Vergraben von Kuhmist mit Quarzit zur Abwehr von Parasiten und gegen Pilzbefall. Vegan sind die meisten Naturweine übrigens auch. Aber auch das liest man selten auf den Etiketten, und dass es für all diese Dinge keine klare Regulierung gibt bzw. man das Zertifizierungsspiel nicht mitspielt, muss nicht verwundern – es würde einfach nicht zum leichten Anarcho-Charakter passen. Es überrascht auch nicht, dass das Ganze viel mehr Arbeit bedeutet und einen deutlich geringeren Ertrag erzielt als herkömmlicher Anbau, zumal mangels Einsatz von Pesti- und Insektiziden stets ein Ernteverlust droht. Viele Naturwinzer – in Frankreich und Spanien gibt es eine recht aktive Szene – leben nicht nur von ihrem Wein, sondern sind „nebenbei“ Architekten oder Galeristen oder anderweitig im Design-Kunst-Betrieb tätig. Vielleicht rührt es daher, dass das Artwork einer Naturwein-Flasche oft lieber experimentell ist, statt mit Familienwappen und Gütesiegeln vollgepackt daher zu kommen.

Weinetiketten
Etikett

##Apfelmost, Sauerkraut, Joghurt, Kuhstall
Gütesiegel – Deklarationen des Standards – sind sowieso keine Kategorie für diese Kategorie. Wer in Naturwein macht und die Regeln der Branche ignoriert, wird mitunter von Kollegen im Dorfe so gerne gemocht wie ein Organic-Weed-Farmer in der Schrebergartenkolonie. „Oft sind diese Winzer in ihrer Gemeinde regelrechte Outlaws, deren Produkte von anderen Erzeugern nicht akzeptiert werden“, sagt Holger Schwarz, Betreiber der Berliner Weinhandlung „Viniculture“. Er verkaufte schon Naturwein, als es noch keinen Naturwein-Hype gab, weil ihm der Geschmack gängiger Weine zu austauschbar, zu gleichförmig war. Womit wir beim Kern sind, dem Geschmack. Wer sich dem Phänomen Naturwein nähert, sollte seine bisherige Wein-Experience lieber an der Garderobe abgeben und die Clubmarke tief in der Tasche vergraben, bevor es in den Underground geht. Dort wird es neblig: Trübe sind viele Naturweine, nicht selten dunkel orange gefärbt, weswegen man auch von „Orange Wines“ spricht. Reißt man den Korken raus, kann es laut ploppen. Nicht nur beim prickelnden Partner des Naturweins, der tatsächlich Natursekt heißt. Es ist ein Zeichen für Nachgärung. Das gehört hier zum guten Ton, während es sonst ein Alarmsignal ist und der Wein direkt gen Ausguss flösse. Hier aber fließt er ins Glas, und mit etwas Luft verrührt (die althergebrachte Technik sieht man auch auf dem Anti-Weinfest, was durchaus putzig wirkt) kommen der Nase weniger typisch fruchtige Noten entgegen. Stattdessen riecht es vielleicht etwas muffig, hefig, teigig, denn Naturwein reift in der Flasche weiter wie ein Käse. Sulfite, also Schwefel, die in klassischen Wein kommen, ihn konservieren und stabilisieren – man könnte auch sagen: kaltstellen –, werden Naturwein nicht zugefügt, sein geringer Schwefelgehalt entsteht aus ihm selbst. Der Wein ist quasi schutzlos, und das bewirkt den Fruchtverlust, den man deutlich schmeckt: Marmelade im Glas gibt es hier nicht, man schmeckt keine Beeren beim Roten oder Birne, Pfirsich und Co. beim Weißen. Diese Klassiker auf jeder Verkostungsnotiz werden – je Sorte – eingetauscht gegen herben Apfelmost, Sauerkraut, Joghurt oder Kuhstall.

##Vino Underground Resistance
Der ersten Irritation sollte man aber nicht zu viel Raum geben, sondern sich einfach drauf einlassen. Wer noch nie Naturwein getrunken hat, sollte als erstes einen „Weißen“ probieren, denn da wird die Abgrenzung zum Standard besonders deutlich. Wer es sich richtig geben will, trinkt den biestigen Anti-Süßwein „La Cosa – The Thing“ aus Segovia, hergestellt aus Muskateller-Beeren. Der kommt in einer ausgesprochen hässlichen, maggiartigen Flasche daher und sein scharfer Essiggeruch und der wilden Schaum im Glas seien Vorwarnung genug für denjenigen, der ihn zu trinken wagt. Der pure Rave, und wo wir gerade dabei sind: Als Helden der Naturwein-Szene gilt ein georgisches Kollektiv namens „Vino Underground“. Hier wird der Wein nicht in Kellern gelagert, sondern in Amphoren im Boden vergraben. Wieder am Tageslicht, bechern die Macher ihn auf internationalen Naturwein-Events großenteils kräftig selbst weg. Dazu steigt orangefarbener Rauch auf.

Naturwein Orange
Apfelsaft

##Es lebe der Wein
Ja, beim Naturwein dreht es sich schon auch darum, der vereinheitlichten Grauburgunder- und Cabernet-Welt eins auf die Mütze zu geben. Distinktion gehört zweifellos dazu. Zeigen, dass man Wein auch anders denken und produzieren kann. Und wie das so ist mit der Distinktion: Manches, was dabei rauskommt, ist der Knaller, anderes nicht, auch bei aller Liebe zur Abgrenzung nicht. Aromareiches Craft-Beer – die Abgrenzung zum Industriebier-Einerlei – wird es wohl immer etwas leichter haben als mit dem Aromaverlust spielender „Craft-Wein“. Aber wenn der Wein weiterleben darf, wenn Frucht und die Süße rausgehen und die wilde Hefe daran arbeitet, den Geschmack in ganz neue Richtungen zu treiben, dann entsteht insgesamt was Gutes: eine deutliche Ausweitung des Aromaspektrums nämlich. Mehr Geschmack im Sinne von mehr Geschmäcker. Was kann daran schlecht sein.

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