Plattenkritik: Nacht 84 – A New PhantomDer Soundtrack für den Sommer und alle Jahreszeiten und Jahre danach

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Platten gibt es wie Sand am Meer. Einige sind großartig. Mit seinem Album „A New Phantom“ gelingt Felix Nisblé aka Nacht 84 ein Meisterstück des (elektronischen) Pop.

Montag, 15. Mai. Es läuft nicht gut, das Prekariat hat mich schon zum Wochenbeginn voll im Griff. Keine Lust auf nichts. Ich schiebe wirklich wichtige Dinge weg, verdaddele mich. Heute nicht. Lieber nochmal hier schauen oder dort. Dann kommt eine E-Mail.

„Andy Stott und The Notwist brechen gemeinsam in den stillgelegten Berliner Spreepark ein um einen illegalen Sommernachtsrave zu feiern - So klingt der Sound von Nacht 84.“

Ich bin interessiert.

Nacht 84? Noch nie gehört. Felix Nisblé? Wer ist das? Die Tracks, die hinter dem Preview-Link warten, entfalten sofort eine fast schon unverschämte Wirkmacht. Was habe ich denn hier schon wieder verpasst? Bin ich mittlerweile wirklich so weit weg vom Puls?

Felix Nisblé kannte man bislang vor allem als Blint. Auf dem angeschlossenen Label Blintmusik buchstabiert sich Felix als T-E-C-H-N-O. Und House. Und Electro. Vor allem als Dancefloor. Das klang – und klingt – oft drüber und kompromisslos, manchmal aber auch zart, verträumt und verletzlich. Immer solide und auf den Punkt.

Nacht 84 Portrait

Foto: Yuriy Ogarkov

Solide ... das klingt ein bisschen unverschämt bzw. despektierlich, ist aber lieb und umarmend gemeint. Übersetzt auf sein Projekt Nacht 84 ist das ein Kniefall des Weggeblasenseins. Was ist denn das für eine unfassbar gute Platte?

Wäre ich ein Musik-Promoter, hätte ich in das Info geschrieben: „Mit Nacht 84 lässt Felix Nisblé den klassischen Dancefloor links liegen und konzentriert sich stattdessen auf das Wesentliche.“ Künstler:innen hätten mir diesen Satz natürlich sofort wieder aus der Kommunikation gestrichen und mir den Stinkefinger gezeigt. Vielleicht ein Generationsproblem, für mich macht das aber Sinn. Denn ganz egal wie deep oder radikal so eine 12" oder ein File auch sein mag: Ich will mittlerweile mehr. Damit bin ich hoffentlich nicht allein. Denn was sind schon fünf Minuten Ekstase auf dem Floor, wenn wir irgendwann alle wieder nach Hause gehen?

Dieses Album, ey. So gut!

Im Opener „Fireworks“ tänzelt eine Violine über dicht gestaffelte Basslines, made in Detroit. Und die Stimmung des Tracks erinnert mich an das alles entscheidende Thema aus „Absolute Giganten“, und ich fange sofort an zu weinen, weil Frank Giering nicht mehr da ist. Vielleicht hat Felix in den vergangenen Jahren ja auch ab zu getrauert. Die Platte klingt jedenfalls so. Eine tiefe Melancholie durchströmt die Tracks, ganz egal wie sie sich auch ausgestalten. Und beim Stichwort „Absolute Giganten“ sind wir natürlich auch irgendwie bei The Notwist, auch wenn die Acher-Band damals zu diesem OST nur Bruchstücke beisteuerte. Wie das fließt, summt und drückt: beeindruckend. Und dabei vollkommen unangestrengt. Nisblé legt schon mit diesem einzigen Track einen Soundtrack hin, der noch in der weiten Zukunft unsere Gefühle in einem zeitloopigen Loop festhalten wird, auch wenn Loops hier gar keine Rolle spielen. Große Momente und Gefühle mittendrin im Adagio-Alltagstrott.

Ich recherchiere weiter. Und lande bei unseren geschätzten Buddies von Kaput. Lest das Interview und lernt dazu. Ich gebe euch noch das mit auf den Weg: Die beiden Tracks „Jurassic Park“ („Let's figure this out") und natürlich „All Nights Down“, die Hymne, die wie ein vergessener Jungle-Smasher beginnt und dann schnell und unvermittelt zum maximal emotionalsten Song des Jahres wächst, sind the shit.

„All Nights Down“ ist per se schon ein wundervolles Stück Musik. Die ganze – reale oder imaginierte Geschichte – erleben wir aber erst im Video:

Die restlichen Tracks? Gelebte dedication, zwischen Sound-Design und der Öffnung des Künstler-Egos für das Input Anderer. Elif Dikeç singt und schmachtet. Cellistin M.C. Schlameus spielt und gibt alles. Dieses Album ist ein Versprechen – an die Gegenwart und die Zukunft. Das mag wie ein Klischee klingen, wird heutzutage aber immer seltener eingelöst. Zu viele Dinge stehen im Weg. Der eigene Anspruch, anders sein zu wollen und/oder zu müssen. Anzudocken an Trends, die den Macher:innen eigentlich gar nichts bedeuten. All das kümmert Nacht 84 nicht. Er macht einfach. Hört auf sein Herz. Kitschig? Genau richtig! Vielleicht hat er diesen Ansatz am Institut für Pop-Musik an der Folkwang-Universität gelernt, aber selbst das wäre mir schon zu generisch. Diese Studiengänge sind ja vollkommen egal. Warum Standards „lernen“, am ESC scheitern, wenn man schon alles im Herzen hat?

Nacht 84 kommt hier mit acht Tracks und Songs um die Ecke, die unser Leben besser machen. So viel wert.

Mittlerweile verstehe ich auch die Andy-Stott-Referenz. Auch wenn die weit hergeholt ist: Darum geht es doch im Pop. So erschließt sich auch der Schulterschluss mit Underworld’s „Born Slippy“ auf „Sleeping In Brooklyn Botanic“. Nacht 84 ist keine Remix-Maschine, niemand, der Dinge recycelt. Hier kommt ein Producer, der einfach alles verstanden hat, kontextualisiert und weiterentwickelt.

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