„Sense8“: Transkontinentaler Sci-Fi-SexKönnen die Matrix-Macher auch Serie?

Sense8

Alle Bilder: Netflix

Für „Sense8“ hat sich das Streaming-Portal Netflix erneut mit renommierten Hollywood-Größen zusammengetan. Die ambitionierte neue Serie schickt sich an, die Grenzen zwischen Film und Fernsehen zu sprengen. Tut sie das auch? Filter-Autorin Laura Rabea hat sich die erste Staffel angeschaut.

„Sense8“ ist das neueste Sci-Fi-Werk der Wachowski-Geschwister Lana und Andy, die hinter der „Matrix“-Trilogie stecken. Mit an Bord sind außerdem Babylon-5-Macher J. Michael Straczynski und eine Handvoll anderer bekannter Regisseure und Produzenten, so Tom Tykwer („Cloud Atlas“), James McTeigue („V for Vendetta“) und Grant Hill („Matrix Reloaded“). Abgesehen von den großen Namen hinter der Produktion ist es vor allem die Internationalität von Sense8, die sie nicht nur aus der allgemeinen Serienlandschaft, sondern auch unter den Netflix-Original-Serien hervorhebt: Die zwölf Folgen umfassende Serie spielt in acht Städten der Welt und versammelt Schauspieler aus Indien, England, Südkorea, Süd- und Mittelamerika und, last but not least, Deutschland.

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Die acht Hauptfiguren, die aus verschiedenen kulturellen und sozialen Kontexten stammen und kaum unterschiedlicher sein könnten, verbindet ein geheimnisvolles Band: Nachdem sie von einer mysteriösen Blonden (Daryl Hannah) in einer verlassenen Kirche „neu geboren“ werden, verspüren sie, ungeachtet ihrer örtlichen und mentalen Entfernung, eine eigenartige Verbindung zueinander. In ausgewählten Momenten verschmelzen ihre Sinnesempfindungen. Der eine kann dann durch die Augen eines anderen sehen, dessen Gerüche, Geschmäcker und Emotionen teilen und seine Erinnerungen und Fähigkeiten abrufen.
Zu diesen acht erwählten „Sensates“ gehört auch der Berliner Einbrecher Wolfgang – selbst von den deutschen Schauspielern stets herrlich abstrus mit englischem Akzent ausgesprochen –, gespielt von Max Riemelt („Freier Fall“, „Die Welle“).

##Sprach-Travestie
Wolfgang leidet unter einem überproportional ausgeprägten Vaterkomplex (übrigens ähnlich wie die meisten Figuren der Serie), einem düsteren Geheimnis aus seiner Vergangenheit und einer gegnerischen Verbrecherbande. Auch wenn Riemelt in der Vergangenheit oft bewiesen hat, dass er ein fähiger Schauspieler ist: Bei Sense8 ist seine Performance als Wolfgang ungefähr so überzeugend wie der letzte deutsche ESC-Beitrag. Dies liegt jedoch meiner Meinung nach weniger an Riemelt als an den englischen Dialogen, die man ihn mit einem ausgeprägten deutschem Akzent sprechen lässt. Der Schauspieler selbst nennt das einen Kompromiss, den man bei einer internationalen Produktion eingehen müsse. In Sachen Praktikabilität mag er ja Recht haben. Man fragt sich aber auch, ob das Untertitel-Lesen wirklich eine größere Zumutung für die Zuschauer gewesen wäre. Gerade die internationale Zuschauerschaft, die mit der Serie doch schließlich angesprochen werden soll, dürfte die Sprach-Travestie stören. Nicht zuletzt, da sie neben dem unangenehmen Klang auch einen bedeutenden Verlust in Sachen Realitätseindruck bewirkt. Umso mehr, weil Riemelt nicht die einzige Hauptfigur ist, die sich mit ihren Landleuten lieber in gebrochenem Englisch als in ihrer Muttersprache unterhält.

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##Internationales Cluster
Zu seinem „Cluster“, wie die Gruppe mit der besonderen körperlichen und mentalen Verbindung genannt wird, gehören der namibische Busfahrer Capheus (Aml Ameen), ein obsessiver Fan Jan-Claude Van Dammes; die indische Wissenschaftlerin Kala (Tina Desai), die einen Mann heiraten soll, den sie nicht liebt; die traumatisierte DJ Riley (Tuppence Middleton) aus London; die transsexuelle Hackerin Nomi (Jamie Clayton) aus San Francisco; die Südkoreanerin Sun (Bae Doona), Finanzberaterin am Tag, Kickboxerin bei Nacht; der Polizist Will (Brian J. Smith) aus Chicago und der ungeoutete schwule mexikanische Soap-Opera-Star Lito (Miguel Silvestre).

Die Schicksale und angeschlossenen Themen der Protagonisten sind von unterschiedlichster Natur, doch in jedem der Fälle steht viel auf dem Spiel – ob es sich dabei um Capheus Leben, Litos Karriere, Suns Freiheit, Kalas Liebesleben oder Nomis Gesundheit handelt. Mit fortlaufender Handlung verflechten sich die einzelnen Geschichten der Charaktere immer stärker. Insbesondere, als sie bemerken, dass ein Unbekannter Jagd auf sie macht. Sowohl die Storylines der einzelnen Charaktere als auch die übersinnliche Haupthandlung sind dabei manchmal mehr, manchmal weniger überzeugend.

Auf den ersten Blick beeindrucken die zitierfähigen Dialoge, doch bereits nach wenigen Folgen stellen sich die großen Parolen weniger als philosophische Tiefe denn als billiger Effekt heraus.

Und obwohl ich persönlich eine leidenschaftliche Verfechterin von Diversität, Repräsentation und Inklusion in medialen Darstellungen bin, wirken die Lektionen zu Trans- und Homosexualität, Rassismus und Religion weniger als Denkanstöße denn als pädagogisch erhobener Zeigefinger. Dies ist besonders im Vergleich zu der ebenfalls von Netflix produzierten Serie Orange is the New Black auffällig, die sich bei ihrer Darstellung von Menschen unterschiedlichster Hautfarbe und Sexualität eher um Authentizität als um Political Correctness bemüht.

Auch wer sich freut, dass die deutsche Hauptstadt mal im Ami-Fernsehen vorkommt, wird eher enttäuscht sein: Obwohl die Berlin-Szenen alle von Tom Tykwer gedreht wurden, wirkt das hier gezeigte Berlin wie von der To-Do-Liste eines Touristen, der zum ersten Mal in der Stadt ist. Wolfgang verscherbelt seine Einbruchsbeute beim Holocaust-Denkmal, und wenn er ganz plötzlich den Drang nach dem indischem Essen verspürt, was bei Kala’s Probe-Hochzeitsessen gereicht wird, geht er erstmal ins „Amrit“ in der Oranienstraße.

##Somatisch intensiv
Was man „Sense8“ nichtsdestotrotz zu Gute halten muss, sind eine ausgezeichnete Action-Choreographie - das Markenzeichen der Wachowskis -, ein fantastisches Sounddesign und die visuell-akustischen Effekte, mit deren Hilfe die Serie die telepathische Verbindung der Hauptfiguren darstellt.

Beim Hauptelement der Plotline trifft die Serie somit wenigstens zielsicher in Schwarze: Die Inszenierung der geteilten Sinne der „Sensates“ ist von einer somatischer Intensität, wie man sie selten im Fernsehen antrifft.

Dabei stechen besonders einige ausgewählte Sequenzen hervor, die über die offensichtlichen Unzulänglichkeiten der Serie hinweghelfen: So ist zum Beispiel die Szene, in der Wolfgang in einer Karaoke-Bar „What’s up?“ von den 4 Non Blondes singt und seine Komplizen in ihrem jeweiligen Part der Welt darauf einstimmen, ein absoluter Gänsehaut-Moment. Auch eine Sex-Szene in der Mitte der ersten Staffel, bei der sich die Sinne der „Sensates“ verbinden, ist von solch visueller Kraft und Schönheit, dass man die Schwächen der Serie darüber fast vergisst. Insbesondere da hier ausnahmsweise einmal nicht nur die weibliche, sondern auch die männliche Anatomie zu bewundern ist.

Sicherlich müsste „Sense8“ für eine zweite Staffel noch einige Verbesserungen in Sachen Dialog und Storytelling verpasst bekommen, trotzdem entwickelt die Serie einen ganz eigenen Charme und sei insbesondere für Sci-Fi- und Wachowski-Fans empfohlen.

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