„Ist die zwangsverheiratet?“Im Interview: Sineb El Masrar, Autorin von „Muslim Girls“

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Sie ist Muslima, trägt kein Kopftuch und ist Chefin von GAZELLE , dem einzigen interkulturellen Frauenmagazin in Deutschland. Sineb El Masrar (33) hat marokkanische Wurzeln, ist in Hannover geboren. Dennoch wird sie immer wieder gefragt: Aus welchem Land kommst du eigentlich? Das nimmt sie locker, ist aber auch einer der Gründe, warum sie „Muslim Girls“ geschrieben hat, ein Buch, das Schluss macht mit den Vorurteilen gegenüber muslimischen Mädchen und Frauen. Das war 2010. Jetzt ist das Buch wieder erhältlich. Gut so, denn an der Situation und der Wahrnehmung der Muslim Girls in unserer Gesellschaft hat sich nichts geändert. Im Interview mit Filter-Autorin Monika Herrmann berichtet sie über falsche Klischees, echte Probleme und erklärt, warum das Tragen von Kopftüchern noch lange kein Hinweis auf Unterdrückung sein muss.

Sineb, eigentlich ist jetzt die Zeit für Muslime am traditionellen Freitagsgebet in der Moschee teilzunehmen. Gehen Sie noch hin?
Nein, denn die festgelegten Gebetszeiten sind ja für berufstätige Muslime nicht immer einzuhalten. Ich kann ja nicht einfach sagen, ich bin mal kurz weg, ich geh in die Moschee zum Beten (lacht). Entweder es wird vor Ort gebetet, im Büro, oder es wird über den Tag hinweg gesammelt und am Abend nachgeholt. Das machen viele. Muslim Girls und Muslim Boys.

Welche Bedeutung hat die Religion überhaupt für Muslim Girls?
Sehr unterschiedlich. Ich beobachte, dass viele muslimische Frauen die Religion vor allem als Empowerment verstehen. Sie entdecken also ihre eigenen Stärken und nutzen sie auch. Also eine Möglichkeit, auch bestimmte Rechte als Frau einzufordern und sich gegen all die überlieferten Traditionen zu wehren.

Die Religion als Befreiung? Die nicht-muslimische Gesellschaft denkt da meistens anders.
Leider. Wenn wir Muslim Girls bei H&M oder Rossmann in der Schlange stehen, dann denken andere Kunden wohl auch: Ist die zwangsverheiratet? Darf die eigentlich ohne männliche Begleitung herumlaufen? Vor allem wenn die Frauen ein Kopftuch tragen. Es sind irreführende Klischees über unser tatsächliches Leben und es werden eigentlich immer dieselben Geschichten erzählt: Zwangsheirat, Kopftuchzwang, Ehrenmord. Aber die positive Kreativität und Freude dieser Frauen kommt in den Diskussionen überhaupt nicht vor. Ohne über Probleme zu schweigen. Die gibt es natürlich auch.

„Man kann oft an der Art wie das Kopftuch gebunden ist oder wie eine Frau sich damit verhüllt, auch auf ihre religiöse Orientierung schließen.“

Eigenartig: Am Kopftuch beißt sich die deutsche Gesellschaft fest. Ist dieses kleine Stückchen Stoff tatsächlich ein Symbol der Unterdrückung?
Natürlich nicht. Das Kopftuch hat für Muslim-Girls ganz unterschiedliche Bedeutungen: Für einige ist es Teil ihrer Religion, für andere lediglich ein Accessoire. Manche tragen ein buntes Tuch, andere verhüllen sich komplett. Wieder andere tragen unter dem Tuch eine Erhöhung, einen so genannten Kamel-Höcker. Viele Frauen tragen zum Kopftuch lange Röcke und Mäntel, keine Hosen. Aber: Die meisten Frauen, die ein Kopftuch tragen, tun dies zu allererst aus einem religiösen Pflichtgefühl heraus. Man kann oft an der Art wie das Kopftuch gebunden ist oder wie eine Frau sich damit verhüllt, auch auf ihre religiöse Orientierung schließen. Aber auch die Familien-Tradition spielt oft eine Rolle, die kulturelle Herkunft.

Sie selbst tragen weder Kopftuch, noch lange Kleider. Sind Sie trotzdem religiös?
Absolut. Ich bete, faste im Ramadan und besuche auch mal die Moschee. Ich praktiziere die Religion. Punkt. Außerdem: Im Koran steht nichts von einem Kopftuch. Wenn ich in die Moschee gehe, lege ich ein Tuch über den Kopf. Wenn ich zu Hause bete auch. Ich könnte es natürlich weglassen, aber ich fühle mich mit dem Tuch sehr geborgen, irgendwie umarmt. Das klingt jetzt merkwürdig, aber so fühlt es sich für mich an.

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„ Ey, was wollt ihr eigentlich?“

Stimmt es, dass Muslim Girls – junge wie ältere – kaum in die Moschee gehen und lieber zu Hause beten?
Eigentlich nicht. Man sieht sie dort schon. Aber Frauen nutzen die Moscheen eher als Begegnungsstätten. Sie treffen sich dort, trinken Tee, quatschen über ihre Alltagsprobleme. Manchmal schnattern sie noch, wenn der Imam längst mit dem Beten angefangen hat. Frauen bringen ihre Kinder mit in die Moschee, die dort spielen. Es gibt aber auch Koranunterricht für die Frauen. Muslim Girls haben ein großes Bedürfnis nach Spiritualität. Aber ich beobachte das auch bei christlichen Frauen. Wie in München zum Beispiel, wo sie nach dem Shoppen mal eben schnell in eine Kirche gehen, um zu beten oder eine Kerze anzuzünden. Ist ja auch völlig OK.

In der deutschen Gesellschaft gelten Muslim Girls oft als schlecht integriert.
Das ist auch so ein Vorurteil. Denn vor allem die zweite und dritte Generation der Muslim Girls haben oft gute Jobs, im Ausland studiert, sind selbständig. Dennoch sind sie mit ständigen Ressentiments konfrontiert. Anerkennung für diese Leistungen findet in der Regel nicht statt. Muslim Girls sagen deshalb: Ey, was wollt ihr eigentlich? Wir haben das alles geschafft, auch ohne eure Hilfe. Trotzdem sind wir nicht Teil dieser Gesellschaft. Stattdessen wird ständig verbreitet, dass wir keine Schulabschlüsse haben und dem Staat auf der Tasche liegen. Aber das trifft nicht unsere Lebensrealität in Deutschland.

Vor kurzem haben sich junge Muslim Girls bei der deutschen Bundeskanzlerin darüber beschwert, dass sie aufgrund ihres Namens diskriminiert werden:
Bewerbungen um Ausbildungsplätze nicht beantwortet werden oder dass sie keine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen. Haben Sie selbst solche Erfahrungen gemacht?

Nein, eigentlich nicht. Ich habe keine wirklichen Ausgrenzungen erfahren. Auch meine Eltern nicht. Jedenfalls nicht gravierende. Natürlich gibt es dieses Phänomen und es ist ein echtes Problem. Aber die Betroffenen müssen sich auch mal fragen: Wie komme ich selbst eigentlich bei den anderen an? Ich wehre mich ein bisschen dagegen, immer alles auf die nicht-muslimische Gesellschaft zu schieben. Eigeninitiative ist oft anstrengend, wirkt aber.

„Es sind nicht selten die Mütter, die die darüber bestimmen, welche Frauen ihre Söhne heiraten. Frauen sind also nicht ausschließlich die Opfer in der muslimischen Gesellschaft, sondern auch Täterinnen.“

Muslim Girls haben aber noch andere Probleme: Die patriarchalen Strukturen in vielen Familien gibt’s ja auch. Oder?
Natürlich und ich thematisiere das auch. Es gibt Zwangsehen oder die arrangierten Ehen, wie sie auch genannt werden, die ganzen Verbote. Zum Glück habe ich selbst das so nicht erlebt. In meiner Familie gab und gibt es keine Zwänge, keinerlei Druck. Eine meiner Tanten ist jetzt über 50 und bis heute nicht verheiratet. Das stört in der Familie niemanden. Übrigens sind nicht nur Mädchen von all den Repressionen betroffen, sondern auch junge Männer. Die leiden dann genauso. Es sind nicht selten die Mütter, die darüber bestimmen, welche Frauen ihre Söhne heiraten. Frauen sind also nicht ausschließlich die Opfer in der muslimischen Gesellschaft, sondern auch Täterinnen. Das muss begriffen werden.

Welche „Gesetze“ gelten für Muslim Girls vor der Ehe? Ob nun arrangiert oder nicht.
Im Grunde ist es so: Jungs dürfen alles, Mädchen müssen vor sich selbst geschützt werden. Sie werden stark kontrolliert von der Familie. Es heißt: Die Jungs machen eh was sie wollen. Das wissen die Eltern auch und man lässt sie deshalb in Ruhe. Was vorehelichen Sex angeht, kann dies bei Jungs natürlich auch schlecht kontrolliert werden, weil sie eben nicht schwanger werden. Also, kriegen sie, ganz platt gesagt, keinen dicken Bauch. Aber: Viele Väter achten auch darauf, dass ihre Töchter eine ordentliche Ausbildung machen. Dann sind es oft die Mütter, die dagegen halten und sagen: Unsere Tochter braucht das alles nicht, die muss heiraten und Kinder kriegen. Was sollen denn sonst die Nachbarn von uns denken? Der Druck auf die jungen Frauen kommt häufig von der weiblichen Seite, also von ihren Müttern, Tanten und Großmüttern, die den Deckel drauf halten.

Muslim Girls Cover

Sineb El Masrar, Muslim Girls, ist als Taschenbuch im Herder Verlag erschienen.

Aber was sollen Muslim Girls machen, die den Druck in der Familie nicht mehr aushalten?
Eine schwierige Frage, denn eigentlich möchte niemand von ihnen den Kontakt zur Familie kappen. Ich denke, dass Gespräche helfen können. Wenn Gewalt im Spiel ist, dann muss sich die Frau natürlich von der Familie lösen, was für die betroffenen Mädchen und Frauen unglaublich schwierig ist. Aber vielleicht gibt es innerhalb der Community jemanden, der vermitteln kann. Manchmal dauert es lange, bis Eltern dann einlenken, aber der Versuch, sich außerhalb der Familie Hilfe zu holen, lohnt sich.

Haben sie die Muslim Boys auch mal unter die Lupe genommen?
Natürlich. Hier in meinem Kiez treffe ich sie täglich auf der Straße, spreche mit ihnen und finde, dass es eigentlich ganz liebe Jungs sind. Manche wollen natürlich auch als Macho wahrgenommen werden, weil das irgendwie von ihnen erwartet wird. Aber das ist die Erziehung. Viele der Muslim-Eltern nehmen ihre Jungs nicht in den Arm, sie geben ihren Söhnen einfach nur einen Strauß voller Freiheiten, mit dem sie gar nicht umzugehen wissen. Je nach Umfeld werden sie auch schon mal kriminell oder driften in den Salafismus ab. Aber viele reflektieren das auch. Sie kritisieren auch ihre autoritären Väter, weil sie nicht so werden wollen wie sie. Ich beobachte, dass Muslim Boys, wenn sie Väter werden, oft sehr herzlich mit ihren Frauen und Kindern umgehen. Vorausgesetzt, dass sie den Raum für die eigene Reflexion haben und den Austausch finden.

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