Plattenkritik: Ryuichi Sakamoto – 12 (Milan Records)Letzte Ausflucht Vergänglichkeit

Ryuichi Sakamoto – 12 Cover

Der schwer an Krebs erkrankte Komponist Ryuichi Sakamoto lässt uns in seinem neuen Album „12“ an seiner tiefen Reflektion von Leben und Tod teilhaben. Es ist vielleicht sein ungeschliffenstes, aber auch deshalb wohl persönlichstes und intimstes Werk.

Vergangene Woche erinnerte Thaddeus Herrmann an den kürzlich verstorbenen Yukihiro Takahashi und sein gemeinsames Projekt Sketch Show mit seinem ehemaligen Bandkollegen Haruomi Hosono vom Yellow Magic Orchestra. Wir bleiben diese Woche im YMO-Kosmos. Der dritte im Bunde und wahrscheinlich bekannteste Mitstreiter Ryuichi Sakamoto hat vergangene Woche zu seinem 71. Geburtstag ebenfalls ein neues Album veröffentlicht. „12“ entstand in den Jahren 2021 und 2022 und ist eine musikalische Auseinandersetzung mit dem Leben, der Vergänglichkeit und dem Tod. Bei Sakamoto wurde 2014 Krebs diagnostiziert, der mittlerweile weit fortgeschritten und wohl im Endstadium angelangt ist. Der 71-jährige Sakamoto hat sich weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und die Songs in seinem Tokioter Heimstudio aufgenommen. Es sei sein tiefes Bedürfnis gewesen, sich an seine Synthesizer und sein Klavier zu setzen und sich in Sound zu hüllen, erklärt der Komponist hierzu. Sakamoto hat in seinem Leben Grammys und Oscars gewonnen. Hier kehrt er von den großen Bühnen und roten Teppichen in den kleinstmöglichen privaten Raum zurück. „12“ ist vielleicht sein intimstes und persönlichstes Werk, auch weil es so verletzlich ist.

Die Geschichten, die hier erzählt werden, könnten als eine Art Dialog mit sich selbst gelesen werden. Die Nomenklatur könnte einfacher nicht sein. Die Songs sind nach den Kalenderdaten benannt, an denen sie entstanden sind. Wie abgespeicherte Dateien. Es geht hier nicht darum, poetische Namen zu finden, ein Werk oder gar ein Opus zu schaffen. Auch die Nummer 12 verweist profan auf die Gesamtzahl der aufgenommenen Stücke. Es sind die Melodien, Skizzen, der aufgezeichnete Klang, um die es geht. Und um dem Ausdruck tiefster Gefühle. Man braucht keine Narrative und inspirierende Interpretationsvorlagen, wenn es letztlich nur um die Musik geht. Es geht um die Vergänglichkeit von Zeit, das Festhalten an das Geschenk des Moments und um die zeitgebundene Magie von Musik, die sich in jedem Moment verflüchtigt, sobald ein Ton erklingt.

Die zwölf Stücke dieses Albums wirken gewissermaßen roh und ungeschliffen. Nichts ist auf Hochglanz und schillernde Frequenzbilder getrimmt. Es wurde nichts glatt gebügelt oder opulent ausproduziert. Durchaus Kategorien, die man von Ryuichi Sakamoto kennt. Aber darin liegt auch die Kraft dieses Albums. Das Rauschen, das Entrückte und Entschleunigte berühren mit jedem Hören mehr. Sakamoto möchte nicht imponieren. Er möchte uns teilhaben lassen an seinem bedrückenden Lebensabend. In Stücken wie „20220302 - sarabande“ zeigt er noch mal seine Versiertheit und zeitlose Grandesse am Klavier, wie ein Anker wirkt dieses Lied, eine Art Konsolidierung und bitterschöne Zusammenfassung seines Schaffens. Die gezeigte emotionale Offenheit und der ungeschminkte Ausdruck von „12“ wirken auf mich wie ein Zeichen unfassbarer Größe. Künstlerisch, musikalisch und wohl auch menschlich. Die Vergänglichkeit ist die letzte Ausflucht, die uns Menschen am Ende bleibt.

Doku: „The Haçienda – The Club That Shook Britain“Acid House, Factory & Club-Ikone

Filter Tapes 047„Signale #22“ von Daniel Spindler / Sinnbus