Auf der Flucht vor der NormFilmkritik: „Midnight Special“

Midnight Special lead full

Alle Fotos: Ben Rothstein / © 2016 Warner Bros

Jeff Nichols meldet sich zurück: Der proletarische Alltagschronist der amerikanischen Südstaaten wandelt mit seinem neuen Film auf den Spuren der Politthriller und Science- Fiction-Filme des New-Hollywood-Kinos. Im Zentrum der Geschichte steht der kleine Alton, ein Junge, der anders ist, besondere Fähigkeiten hat, eine abgedunkelte Schwimmbrille tragen muss und gejagt wird: vom FBI und religiösen Fanatikern.

Ein grauer Wagen mit abgeplatztem Lack rast durch die amerikanische Nacht. Darin sitzen Roy (Michael Shannon), Lucas (Joel Edgerton) und Roys Sohn Alton (Jaeden Lieberher), der offenbar mit einer geheimnisvollen Gabe gesegnet ist und den Ort seiner Bestimmung erreichen muss. An ihre Fersen heften sich nicht nur FBI und Polizeikräfte mehrerer Bundesstaaten, sondern auch eine erzreaktionäre Sekte. Sie alle wollen Roys Sohn, eigentlich ein stilles Kind, das aber unvermittelt geheimnisvolle Prophezeiungen ausspricht: rätselhafte Codes oder auch das Programm eines hispanischen Radiosenders. Solche „Gaben“ sind jedoch für die mit ihnen Beschenkten meist ein äußerst anstrengender Ballast. So auch für Alton, der immer häufiger von Schwächeanfällen heimgesucht wird. Es gilt also, vor den Verfolgern zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Einen visuellen Eindruck gefällig? Bitte sehr.

Die Abbildung dieses Rennens gelingt Regisseur Nichols und seinem Kreis bewährter Musenschauspieler mit Leichtigkeit: Michael Shannon pendelt – wieder! – meisterhaft zwischen Ohnmacht und hartnäckigem Widerstand gegen alle Schicksalsschläge. Der große Sam Shepard, der zuletzt in Nichols' Mud (2012) einen Vater-Sohn-Konflikt mit Matthew McConaughey ausfocht, spielt den waffenverliebten Prediger Calvin Meyer mit links. Zu den Flüchtenden gesellen sich auf ganz natürliche Weise die Nichols-Neuzugänge Kirsten Dunst und Shootingstar Adam Driver. Sie gibt Altons Mutter, er einen nerdigen NSA-Agenten. Um mit dem letzten großen Hollywoodschauspieler McConaughey zu sprechen: „I didn´t see a false note anywhere“. Der heimliche Held von Midnight Special ist aber Joel Edgerton, der schon in Black Mass (2015) dem schlangenäugigen Johnny Depp die Show stahl und hier mit Boxerschnitt, Shotgun und Handschuhen im Gürtel der wortkargen, ehrlichen Seele des Südstaatenarbeiters ein Gesicht gibt.

Nachdem Nichols zuletzt in Take Shelter (2011) den Katastrophenfilm zum proletarischen Familiendrama ummünzte und mit Mud den Geist Mark Twains am Arkansas River beschwor, verneigt sich dieser neue Film vor den Verschwörungs-Thrillern und Science-Fiction-Träumereien der 1960er- und 1970er-Jahre. Die Bezüge und Anleihen reichen von Village of the Damned (1960) hin zu Spielbergs Close Encounters of the Third Kind (1977) und sind angenehm dezent platziert. Auch das halluzinatorische Finale, das Nichols leicht an die platonische Ideenlehre anlehnt, hinterlässt mehr Fragen als Antworten und verzichtet auf pflichtschuldiges Psychologisieren und Rationalisieren. Nicht zuletzt Dank Nichols’ großartigem Hauskameramann Adam Stone reiht sich der Film nahtlos in das Œuvre des Filmemachers ein.

Midnight Special 02

Während Michael Shannon noch sehnsüchtig kreischenden Fans auf der Berlinale Autogramme gibt, befindet sich Jeff Nichols nächster Film schon in Produktion. Er wird von einer gemischtrassigen Ehe im Virginia der 1950er-Jahre erzählen, Joel Edgerton übernimmt die Hauptrolle. Nichols bleibt Michael Shannons Fischerweisheit aus Mud treu, er hat das richtige Gespür dafür, was man aus dem großen Strom herausziehen muss und was man treiben lassen kann.

Midnight Special
USA 2015
Regie: Jeff Nichols
Laufzeit: 112 min

Screenings während der Berlinale:
Sa, 13.02., 09:30 – Zoo Palast
Sa, 13.02., 11.00 & 21.30 – Haus der Berliner Festspiele
Sa, 13.02., 12:00 – Friedrichstadtpalast

Am 18.02. startet der Film dann offiziell in den deutschen Kinos.

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