Pulled Pork und PolitikFilmgespräch: Berlinale 2016

Le fils de

Le Fils de Joseph

Zehn Tage Berlinale sind vorbei. Wie war es dieses Mal? Welche Filme sollten sich Cinephile für die To-view-Liste notieren? Unsere Film-Autoren Tim Schenkl und Daniel Moersener ziehen Bilanz.

Tim Schenkl: Über die Berlinale als sogenanntes A-Festival wird ja besonders von Filmkritikern gerne geschimpft. Häufig wird vor allem die relativ willkürliche Programmgestaltung und der im Vergleich zu den Festivals in Cannes und Venedig wenig hochkarätige Wettbewerb bemängelt. Dieses Jahr konnte man jedoch Stimmen vernehmen, die darauf verwiesen, dass genug gute Filme zu sehen seien, man müsse sie halt nur etwas suchen. Deine Eindrücke von der 66. Berlinale?

Daniel Moersener: Für mich war und ist die Berlinale ein zweischneidiges Schwert. Einerseits fühlt man sich immer etwas befremdet zwischen dem politischen Anspruch, der dort deklariert wird, und dem ganzen Brimborium drum herum: Der Potsdamer Platz mit seinen edlen Hotels, auf der Straße davor Foodtrucks, die sündhaft teures Streetfood verkaufen und Rap-Musik laufen lassen. Andererseits ist es richtig, dass das Programm den Zuschauer wirklich nicht auf dem Trockenen sitzen lässt.

Tim: Das Kuratieren muss man halt selbst übernehmen, was ja eigentlich die Hauptaufgabe eines Festivalteams seien sollte. Aber ich muss schon sagen, auch in diesem Jahr war die Berlinale für mich persönlich wieder ein durchaus erfüllendes Erlebnis. Ich habe mir vorher eine eher kleine, aber feine Liste an Filmen zusammengestellt, die ich dann relativ konsequent abgearbeitet habe. Am Ende habe ich so dieses Mal wirklich fast nur gute oder zumindest okaye Filme gesehen. So eine gute Quote habe ich während des restlichen Kinojahres zumeist nur sehr selten.

Daniel: Was waren denn deine Favoriten?

Tim: Wirklich toll fand ich Le Fils de Joseph von Eugène Green. Eine formal äußerst strenge Komödie, die zwischen den Polen Kulturbetriebssatire und Bibelgeschichte hin und her mäandert. Ein absolut faszinierendes Werk, das von den belgischen Dardenne-Brüdern produziert wurde, die ja selbst Regisseure sind. Schön fand ich auch Rudolf Thome – Überall Blumen von Serpil Turhan. Ein Dokumentarfilm. Turhan interessiert sich vor allem für den Alltagsmenschen, weniger für den Regisseur Rudolf Thome und erstarrt vor allem nicht in Ehrfurcht vor diesem, ihr an Erfahrung deutlich überlegenen Regisseur. So entsteht eine Begegnung zweier Filmschaffender auf Augenhöhe, die letztlich dann auch deutlich mehr über den Filmemacher Thome erzählt als eine gewöhnliche Dokumentation, die vor allem seine Filmografie rekapituliert. Deine Favoriten des Festivals waren ja Midnight Special und Spike Lees Chi-Raq. Beide liefen im Wettbewerb. Chi-Raq allerdings außer Konkurrenz.

midnight

Midnight Special Ben Rothstein © 2016 WARNER BROS. ENTERTAINMENT INC. AND RATPAC-DUNE ENTERTAINMENT LLC

Daniel: Jeff Nichols ist für mich einer der spannendsten US-Regisseure der Gegenwart. Ich habe mittlerweile eine Art uneingeschränktes Grundvertrauen in alles, was der Mann abliefert. Eigentlich hat amerikanisches Indiekino bei mir einen relativ schweren Stand. Nichols fasziniert mich aber durch sein immer wiederkehrendes Thema, die Sorgen und Nöte der arbeitenden Südstaatenbevölkerung. Seine Perspektive darauf ist in klassisch-amerikanischen Narrativen verwurzelt und gleichermaßen einsilbig-ernst wie romantisch-unbeschwert. Chi-Raq solltest du bei Gelegenheit unbedingt nachholen. Spike Lee als altgedienter Held des schwarzen Autorenfilms beweist sich damit als meilenweit von jeglicher Verknöcherung entfernt. Im positivsten Sinne aktuell und ungemein unterhaltsam.

Ein politisches Festival?

Tim: Auf den Post-Clockers-Spike-Lee stehe ich, um ehrlich zu sein, nicht so sehr, aber dir zuliebe gebe ich ihm dann noch einmal eine Chance. Vielleicht kommt der Film ja sogar irgendwann noch regulär in die deutschen Kinos. Bis jetzt gibt es, glaube ich, noch keinen offiziellen Starttermin. Wo wir gerade beim Wettbewerb sind: Dir und mir ist dieses Jahr ja dasselbe Missgeschick passiert wie vor uns schon diversen anderen Filmkritikern: Den Gewinner des Goldenen Bären, Gianfranco Rosis Fuocoammare, haben wir beide verpasst. Bei Fuocoammare handelt es sich um einen Dokumentarfilm, der die Lebensrealität der Einwohner von Lampedusa kontrastiert mit Aufnahmen der in Booten eintreffenden Migranten. Allgemein stand die Flüchtlingsthematik ja im Zentrum des diesjährigen Festivals.

Daniel: Das ist richtig. Es ist ja auch unmöglich, das Leid der Flüchtlinge zu ignorieren. Nur was für Filme kommen dabei herum?

Tim: Da würde ich gerne kurz einhaken, denn du sprichst hier in gewisser Weise einen beliebten und, wie ich finde, auch substanziellen Vorwurf gegenüber der Berlinale an. Meryl Streep hat es ja bei der Preisverleihung am Samstag ausgesprochen: Die Berlinale versteht sich als ein politisches Festival. Die Frage ist jedoch: Wird ein Filmfestival allein dadurch schon politisch, dass es ein paar Filme zum Thema Migration und Flüchtingspolitik zeigt? Oder gehört nicht viel mehr dazu?

Daniel: Im Grunde kommen wir da zu der Frage nach einer politischen Filmästhetik.

Tim: Und außerdem dazu, dass es meiner Meinung nach die Aufgabe eines politischen Filmfestivals sein muss, Bezüge zwischen unterschiedlichen Filmen herzustellen und für eine bestimmte Art des Kinos einzustehen. Gerade Letzteres trifft für die Berlinale kaum zu. Man könnte darüber hinaus etwas provokativ formulieren: Sie stellt vor allem den Bezug zwischen ertrinkenden Flüchtlingen und Pulled-Pork-Sandwiches für acht Euro her.

Daniel: Das sind vermutlich die Pole, an denen es anzusetzen gilt: Diese imaginierte Kluft zwischen „Denen“ und „Uns“ gilt es zu entzaubern, denn dahinter stehen ganz praktische Probleme: ungenügende Unterbringungen, deutsche Fremdenfeindlichkeit und teilweise mittelalterliche Glaubensvorstellungen der Angekommenen. Das wäre eine Aufgabe auch für Filmemacher, Filmkritik und Festivals.

havarie

Havarie © pong

Tim: In Philip Scheffners Havarie, der im Forum lief, gibt es einen tollen Moment, der das vermeintlich „Die“ und „Wir“ in geradezu tragischer Art und Weise auf den Punkt bringt. Havarie entstand, nachdem Scheffner und Merle Kröger einen 3:36 Minuten langen YouTube-Film entdeckt hatten, der eine Gruppe von Männern zeigt, die auf einem Schlauchboot im Mittelmeer umhertreiben. Fasziniert von der kurzen Sequenz, begannen die Filmemacher zu recherchieren, was es mit diesem Clip auf sich hat. Nach längeren Dreharbeiten entschied man sich letztlich, die entstandenen Aufnahmen doch nicht in den Film einfließen zu lassen und nur die Tonaufnahmen zu verwenden. Als visuelle Grundlage von Havarie dient nun der eigentliche Ausgangspunkt des Films, die gut dreieinhalb YouTube-Minuten, die Scheffner und Kröger auf über 5.000 Einzelbilder strecken, sodass der Film nun knapp über 90 Minuten dauert. Auf der Tonspur hört man derweil die Funksprüche der Küstenwache und diverse Personen, die mit den damaligen Ereignissen im Mittelmeer in Verbindung stehen. Nach etwa der Hälfte des Films erfährt der Zuschauer, von wo aus die Kamera die Männer in dem Schlauchboot eigentlich filmt. Ein langsamer Schwenk nach rechts lässt eine Aussichtsplattform eines Kreuzfahrtschiffes sichtbar werden, von der mehrere Touristen fasziniert hinunterblicken. In diesem Augenblick sind mir im Kino fast die Tränen gekommen. Selten wurde es deutlicher, dass wir eben nicht alle in einem Boot sitzen, sondern es „die da oben“ und „die da unten“ gibt.

Daniel: Wo wir doch eben von politischer Filmästhetik gesprochen haben: Havarie ist dokumentarisch und allegorisch zugleich. Scheffner findet eine offene Form.

Isabelle Huppert

L’avenir

Anarchistische Kommunarden in abgeschiedener Natur

Tim: Lass uns noch einmal zum Wettbewerb zurückkommen. Ein Film, den wir beide gesehen haben und größtenteils auch mochten, war L’avenir von Mia Hansen-Løve, für den sie den Preis für die beste Regie bekommen hat. L’avenir erzählt von der von Isabelle Huppert gespielten Philosophielehrerin und zweifachen Mutter Nathalie. Sie wird von ihrem Mann, einem Professor für Philosophie, verlassen und steht plötzlich vor dem Nichts.

Daniel: Der Film wird ja sehr gelobt für seinen beschwingten Ton im Umgang mit all den Schicksalsschlägen, die Isabelle Huppert ereilen. Er macht einiges richtig, anderes auch nicht. Man muss aber sagen: Wäre L’avenir ein deutscher Film gewesen, er wäre sicherlich ganz furchtbar geworden.

Tim: Das habe ich auch gedacht! In L’avenir wird das Kino nicht gerade neu erfunden. Man hat außerdem manchmal das Gefühl, Mia Hansen-Løve reproduziere hier ein wenig das Klischee eines französischen Bildungsbürgertums, das den ganzen Tag über Philosophie debattiert und sich abends dann den neuen Kiarostami-Film im Kino anschaut. Aber das Ganze ist so ideenreich und elegant fotografiert und wird von Hupperts Spiel so stark getragen, dass man dem Charme des Films einfach erliegen muss.

Daniel: Polemisch ausgedrückt, ist es ein linker Film über Familienprobleme reicher Leute. Oder, wie du sagtest: Hier wird ein Bildungsbürgertum und eine sich an diesem abarbeitende studentische Protestkultur inszeniert. Beides sieht unheimlich gut und retro aus, aber es bleibt fraglich, ob es das so heutzutage überhaupt noch gibt bzw. jemals gab: die Flugblätter, die fast schon konspirativ hin- und hergeschobenen Bücher, die Gespräche über Zigaretten und Kaffee, in denen sich Politik und Beziehungen überlagern. Diese Sehnsucht nach dem goldenen politischen Zeitalter zieht der Film aber gekonnt auf. Das muss man ihm lassen. Allerdings bin ich nicht sicher, ob eine Adorno- und Horkheimer-Lektüre einen zum anarchistischen Kommunarden in abgeschiedener Natur werden lässt wie den im Film dargestellten Ziehsohn von Nathalie. Letztlich war der Film jedoch keinesfalls schlecht. Umgehauen hat er mich aber nicht.

Tim: Eben genau wie die Berlinale.

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