„Victoria“: Heist, High und HeimatÜber den Hype-Film des Jahres und sein Scheitern

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Alle Fotos: Senator Film Verleih

Sebastian Schippers (Absolute Giganten) neuer Film Victoria wird als wagemutige Zäsur im sonst so berechenbaren deutschen Kino gefeiert. Dabei gab es die Story schon einmal in besser: Roger Avary, ehemaliger Weggefährte von Quentin Tarantino und Co-Autor von Pulp Fiction, schuf 1993 mit seinem kompromisslosen Regiedebüt Killing Zoe die Blaupause eines zeitgemäßen Heist-Movies. Unser Autor Daniel Moersener über deutsche Bankräuber und Party nach dem Leistungsprinzip. Für alle, die Victoria noch nicht gesehen haben: Spoiler Alert!

Dem deutschen Kino-Elternhaus täte ein Enfant terrible, ein verzogener Film-Bastard, eigentlich ganz gut. Scheinbar ist sich die deutsche Filmkritik einig, dass dieser mit Victoria nun gefunden wurde: Die junge Spanierin Victoria erlebt im fremden Berlin die Nacht ihres Lebens, inklusive Banküberfall und noch dazu ohne einen einzigen Schnitt. Doch wie immer, wenn alle „Ja“ schreien, ist Vorsicht geboten. Besonders weil Regisseur Sebastian Schipper schon mit seinem Erstling Absolute Giganten genau die falschen Pfade einschlug. Sein Debüt war ein auf das Tarantino-begeisterte Jungpublikum zugeschnittener, schaler Heimatfilm mit Pop-Anstrich. Die Zutaten: Eine Jungsclique mit Retro-Optik und eine große Portion absolut ernst gemeinter Heimatschmalz.

Schipper gewann daraus ein provinzielles Melancholie-Präparat für alle, die sich in der großen weiten Welt verloren fühlen, am Kickertisch der Stammkneipe dafür umso wohler. Jetzt zieht Victoria mit ähnlichen Mitteln vor allem Berliner Mittzwanziger ins Kino, das Feuilleton steht Kopf und ein paar Preise gab es obendrein. Dabei ist die Story von Victoria im Grunde nicht neu. In Killing Zoe reist der amerikanische Safe-Knacker Zed (Eric Stoltz) nach Paris, um einen Banküberfall mit einer Verbrecherbande durchzuziehen. Der Vorabend verliert sich zunehmend in einer drogenreichen Party, eine mysteriöse Schönheit namens Zoe (Julie Delpy) taucht auf, und der Überfall mündet in einem blutigen Finale.

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##Keine babylonische Sprachverwirrung
Es war abzusehen, dass es sich bei Victoria um einen bloßen Gimmick-Film handelt, der sich in Form und Inhalt mehr schlecht als Recht zu tragen weiß. Insofern überrascht es auch nicht, wie flach und nichtssagend die Figuren angelegt sind, vom Ex-Knacki mit Herz und Sprachfehler bis zur gescheiterten Konservatoriums-Bewerberin Victoria, ganz zu schweigen von einem Gangsterboss mit blondierten Haaren, der dauernd auf ungelenke Weise „Bitch“ sagt. Gerade das Sprachgefälle zwischen der Spanierin und den in Deutsch und Englisch betrunken murmelnden Jungs hätte Potential für Komik aber auch interessante Verwicklungen bieten können. Leider weiß der Film diese Diskrepanz nicht zu nutzen. In Victoria wird ständig alles erklärt, übersetzt und damit jeglicher Dissonanz beraubt. Im Gegensatz dazu lotst Killing Zoe den Amerikaner Zed wie auch den Zuschauer immer wieder in Situationen, in denen er rein gar nichts versteht: Die Franzosen quatschen munter vor sich hin und der Protagonist stolpert durch ein verkommenes, perverses Paris.

##Langeweile auf dem Dorfplatz
Der schlimmste Fauxpas, den Victoria blindlings begeht, ist ein Sakrileg für jeden Thriller: Er langweilt schlichtweg. Da durch den 136-minütigen Long-Take die Wegstrecken der Protagonisten nicht zu weitläufig angelegt werden konnten, sind die verschiedenen Settings, ob Hausdach, Club oder Tiefgarage, alle in einem Radius von wenigen Kilometern situiert. Dem Zuschauer wird quasi das lästige Warten auf die U-Bahn oder den Nachtbus erspart. Dadurch wirken aber alle Distanzen im Film unpassend gering, die Großstadt wird zum virtuellen Dorfplatz. Das essentielle, urbane Verlorengehen im Thriller, ob in U-Bahnschächten, Straßenschluchten oder Bankverliesen, weiß Victoria kein bisschen einzufangen. Zugleich ermüdet es ungemein, das Grüppchen von A nach B laufen zu sehen, schließlich weiß jeder, wie sich ein nächtlicher Fußmarsch durch die Stadt anfühlt. Gutes filmisches Timing sieht anders aus. An dieser Stelle entzweien sich der Echtheits-Anspruch und das Bild, das Victoria transportieren möchte. Gerade weil nicht geschnitten wird, weil man Victoria und ihren Jungs permanent über die Schulter schauen muss und der nächste Stopp stets direkt um die Straßenecke wartet, fühlt sich der Film eng, theaterhaft und vorhersehbar an. Killing Zoe macht in diesem Punkt innerhalb der 90 Minuten alles richtig: Die Wegstrecken und räumlichen Distanzen in Paris zeigt der Film mal in doppelter Geschwindigkeit zu rasendem Soundtrack, mal durch spezielle Linsen verzerrt oder auch klaustrophobisch zurückgenommen, wenn die tiefrot gestrichenen Wände des Bankgebäudes alles verspritzte Blut schlichtweg absorbieren.

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##Die moralistischen Bankräuber
Anstatt eine spannende Story zu fabrizieren, wartet Victoria mit allerlei expressiven Zusammenbrüchen und Freundschaftsbekundungen der Figuren auf. Man liegt sich in den Armen, versichert sich ständig, gute Menschen zu sein und als am Ende ein Baby gekidnappt werden soll, ist für Sonne (Frederick Lau) eine Grenze erreicht. Seine Atzen haben sich zuvor für ihn in die Polizeikugeln geworfen, bei Kindern oder Tieren hört in Deutschland allerdings der Spaß auf. Unter der Oberfläche der Unvorhersehbarkeit dreht der Film ganz penetrant am Zeiger seines Moralkompasses. Die Liebesgeschichte zwischen Sonne und Victoria wird vorerst von Sonnes Clique eingefroren, immer wieder predigt einer aus der Runde dem anderen: „Keine Ego-Trips“. Auch im libertären Bankräuber-Business weiß man in Deutschland offenbar ganz genau, wem wann was zusteht — vor allem selbstverständlich das Geld. Natürlich geschieht nicht, was den Film ab einem gewissen Punkt noch hätte retten können: Nämlich dass die Jungs sich wegen der Frau und des Geldes in die Haare bekommen und versuchen, sich gegenseitig ans Messer zu liefern. Victoria darf erst mit dem geraubten Geld verschwinden, nachdem Sonne seiner Verletzung erlegen ist. Jeder ist moralisch integer, alles bleibt berechenbar.

Die Bankräuber-Truppe, an die Zed gerät, ist von einem ganz anderen Kaliber: Ein verstörender Haufen Psychopathen, angeführt von Eric (Jean-Hugues Anglade), einem De Sadeschen Tyrannen. Sie spritzen und rauchen Heroin, haben HIV, vergewaltigen und morden. Im Grunde besteht ganz Paris aus Schmutz und Degenerierten: Die Franzosen duschen selten, spülen kein Geschirr und lassen tote Haustiere einfach in der Wohnung verwesen.

##Leistung als Heimatgefühl
In Victoria wie auch Killing Zoe wird den Protagonisten versprochen, dass man ihnen das „echte“ Berlin bzw. Paris zeigen werde und beide Filme präsentieren scheinbar städtetypische Clubs. Zed ist allerdings permanent genervt von Paris, der Besuch wird zum Höllentrip, die Stadt der Liebe wird rücksichtslos mit Negativ-Klischees und Geschmacklosigkeiten überhäuft und erscheint als alptraumhafte Inkarnation aller amerikanischen Vorurteile gegenüber „Old Europe“. Vermeintliche Hoch- und Populärkultur stoßen im Film auf brutale Weise zusammen. Als Mischung aus Autoren- und Exploitationfilm weiß er unter seiner Oberfläche sowohl um die ästhetischen Vorteile der Kulturindustrie, deren Produkte für ihn stilprägend sind, als auch um ihre Erbarmungslosigkeit, um den Spaß als Stahlbad. In Killing Zoe wird klar, dass der vermeintlich freie Exzess selbst als zwanghaftes System organisiert ist. Beim Überfall auf die Pariser Bank tragen die Gangster Partymasken vor dem Gesicht und Eric setzt sich vor dem Tresor einen Schuss. Selbst das vermeintliche Happy End des Films bleibt verstörend ambivalent.

Sebastian Schippers Film hat im Grunde gar nichts zu erzählen. Er verharrt in der Gleichung „Leistung — Emotion — Heimat“ und klammert sich an flüchtige Gemeinschaften und Hochgefühle. Victoria ist ein provinzielles Melancholie-Präparat für jene, die sich in der großen weiten Welt verloren fühlen, dafür aber auf der Toilette ihres Stammclubs umso wohler. Nach zwei Stunden ermüdenden Long-Takes schaltet sich die Kamera endlich ab, aber nur bis zum nächsten Wochenende: Es könnte die Nacht deines Lebens werden.

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