Rewind: Klassiker, neu gehörtAutechre – Chiastic Slide (1997)

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Irgendwann muss sich jede Band mal entscheiden, wie die Zukunft klingen soll. Im Falle von Autechre und den beiden Musikern Sean Booth und Rob Brown lässt sich der Beginn dieser Periode ziemlich exakt auf 1995 bestimmen. Vorbei war das Schwelgen in üppigen Melodien und mehr oder weniger sanften Beats. Der Sound der beiden Manchesteraner, die zu diesem Zeitpunkt mit „Incunabula“ und „Amber“ zwei stilprägende LPs auf Warp veröffentlicht hatten, mäanderte fortan in immer abstrakteren Gefilden – eine Entwicklung, die noch lange nicht abgeschlossen scheint. 1997 zeigt die Band am Scheideweg. Noch kann man sie hören, die Wärme früher Produktionen, die Liebe zu Chords und den Hang, das Filter für das Extraquäntchen Euphorie beherzt aufzudrehen. Aber: Dieses Gerüst wird schon hier scharfkantig kontrastiert von Beats, Strukturen und Tempi-Wechsel, die mit althergebrachten Schaltkreisen so nicht möglich gewesen wären. Als würden zwei Welten aufeinanderprallen, steht „Chiastic Slide“ gleichwohl für Abschied und Neubeginn, für die Vergangenheit und die Zukunft, für die sich jede Band eben irgendwann entscheiden muss. Wie die sich heute schlägt, klären Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann.

Martin Raabenstein: Cooler Scheiß. Macht man so heute auch nicht mehr. Streiche ich mir im Kalender an, den Tag, an dem ich mal sowas sagen würde. Das ist aber auch die letzte Autechre-Scheibe, die man so einfach ohne Paracetamol 600 genüsslich hören konnte.

Thaddeus Herrmann: Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Sean Booth und Rob Brown ihre ersten beiden LPs – „Incunabula“ und „Amber“ – heute eher kitschig finden. Empfinde ich natürlich ganz anders. Aber doch passierte danach ein Bruch. „Tri Repetae“ von 1995 und diese hier definieren den Sound der Band neu. Und sind beide noch so produziert, dass das Alte und das Neue miteinander harmonieren. Wir haben also die Melodien von früher und die Beat Science, die immer mehr von den technologischen Entwicklungen bestimmt wird. Weg von der klassischen Hardware, vom Drumcomputer, hin zur Software, zu MAX/MSP, bestimmt auch zu eigenen Patches. „Chiastic Slide“ ist also der zweite Schritt dieser Transformation, hier klingt alles schon deutlich abstrakter, ist aber auch sehr HipHop, was wiederum gut in die Zeit damals passt. Es gab zahlreiche Labels und Künstler, die sich an diesem digitalen B-Boy-Zeug abarbeiteten. Und nicht nur die Tracks von Autechre funktionieren heute noch gut. Man sagt ja immer gerne, Techno sei so wichtig, weil die Produktionsmittel plötzlich demokratisiert wurden. Die eigentliche Demokratisierung war aber der Laptop. Und Autechre haben den erfunden.

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Martin: Stimmt ja hier nicht so ganz. Tools und Produktionsmechanismen selbst anzufassen, ist genau das Gegenteil von Demokratisierung. Im Fall von Autechre fallen hier zwei begnadete Produzenten in den Abyss der eigenen Weltenschöpfung durch Programmierung. Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Überleg’ mal, du kannst nicht mehr nur mit Samplern im Mikrobereich rumspielen, plötzlich hast du die DNA der Musik direkt in den Händen. Das erklärt möglicherweise die späteren „Star Trek“-ähnlichen Entdeckungen völlig unbekannter Welten. Das verändert den Kopf und damit die Musik.

Thaddeus: Ich meinte Demokratisierung auch eher finanziell. Aber sonst stimme ich dir zu. Schade nur, dass die Welten dann nicht mehr so geil waren.

Martin: In einem Dance-Kontext ist das sicherlich richtig, spannend ist aber die einzig logische Frage hier: Ist das den beiden Künstlern egal? Auch auf diesem Album drehen sie doch eine eher allgemein verständliche Melodieführung, die du das „Alte“ nennst, ganz langsam aus ihrer Funktion. Es gibt da auch andere Passagen, auf „Chichli“ zum Beispiel. Im Laufe des Stückes entwickelt sich das Gefühl einer feinsinnigen Verwebung unterschiedlichster, nicht zueinander passender Stücke. Das ist clever durchdacht, aber sehr fokussiert und verliert so natürlich langfristig die Massentauglichkeit.

Autechre – „Chichli“

Sonne über Rochdale

Thaddeus: Zu deinem ersten Punkt: Was ich an Autechre besonders mag, ist ihre kategorische Verweigerung. Allem gegenüber. Ich versuche regelmäßig, mir ihre späteren Platten so doch noch schön zu reden. Coole Dudes, die sich um nichts kümmern. Weil ihre Fans alles fressen, was sie denen hinwerfen. Gerade „Chichli“ jedoch empfinde ich als ganz klassischen Autechre-Track, der ja auch eine Punktlandung im tiefroten Sonnenuntergang über Rochdale hinlegt. Zu diesem Album gab es ein Mixtape, dass das Label zunächst nur an Journalisten verschickte. Das ordnet „Chiastic Slide“ ganz gut ein. Es war die Zeit, in der Elektronika die Technologie-Spritze gesetzt bekam und langsam aber sicher in etwas Anderes mutierte.

„Diese Erkundung des endlosen Weltalls - heute nicht mehr denkbar.“

Martin: Jetzt sind wir aber ganz genau bei meinem traurigen Eingangs-Statement angelangt. Macht man so nicht mehr. Technologie als Mittel der Neugier, des Suchens, das gesamte letzte Jahrhundert ist voll damit, Schaeffer, Stockhausen, Cage. Stell’ dir vor, du gehst in ein klassisches Konzert und plötzlich spielt da ein Plattenspieler auf der Bühne. Die Leute haben sich die Anzüge zerrissen und die Komponisten gleich mit. Gib heute einem Kind ein Programm wie Fruity Loops und was machen sie damit? Kleine Kopien dessen, was sie kennen. Die Erkundung des endlosen Weltalls, wie hier bei Sean und Rob, ist heute nicht mehr denkbar. Daher um so wertvoller.

Thaddeus: Das ist ganz schön despektierlich. Nur weil du viele aktuelle Produktionen nicht magst, heißt das nicht, dass sie schlecht sind oder Kopien.

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Martin: Okay, diese Backpfeife nehme ich. Es gibt durchaus noch eine Menge Produzenten, deren Ergebnisse mir den Unterkiefer wegpusten können, gerade in den letzten zwei Jahren ist es für mein Verständnis wieder sehr spannend geworden. Dennoch bin ich der Meinung, dass genau diese von dir angesprochene Demokratisierung der Mittel aus mehreren Gründen der Neugierde, also dem eigentlichen Grund für die Entwicklung eigener Sphären, grob im Wege steht. Ich kann und will den Mainstream nicht verteufeln, aber schau dir doch mal an, was hier im Lande die Top 20 ausmacht. Das ist bestimmt nicht meine Idee von Musik.

Unterkiefer-runterklapp-Producer

Thaddeus: Meine auch nicht unbedingt, aber sich zwingend an bestimmten Dingen abarbeiten zu müssen, um Großes zu erreichen, ist auch ein Trugschluss. A couple of things: Die erste Platte von Autechre überhaupt war ein Jungle-Hardcore-Nummer. Also nichts „Eigenes“, sondern einfach nur eine Kopie dessen, was die Jungs damals cool fanden und gehört haben. Das Problem ist doch, dass du sagst, dir pusten heute nur wenige Produzenten den Kopf weg. Das ist bei mir doch ganz genauso. Aber ich kann das ignorieren, dir macht es Magenschmerzen. Du leidest mehr für die Musik. Das ist toll und das ist auch ein Grund dafür, warum ich dich so lieb habe, aber jetzt musst du mal loslassen. Genauso, wie Autechre auch losgelassen und ihren Weg gefunden haben, ihre Zukunft begannen zu definieren, dann ist das ja gut. Auch wenn man selber wenig oder weniger damit anfangen kann. Aber das trifft auf diese Platte hier ja auch gar nicht zu. Wir machen laut und schwelgen.

„Zurück zur Platte, das ist weniger schmerzhaft.“

Martin: Vielen Dank für die Liebesbezeugungen und das alles, das ist aber nicht der Punkt. Ich denke, dass es in der Geschichte der Musik immer wieder Phasen des Stillstandes und des Auf-der-Stelle-Tretens gab. Das waren und sind Wellen, es geht ja schon wieder langsam bergauf. Zum Thema Magenschmerzen, die sind in diesem Falle eher in meinem Kopf. Zurück zur Platte, das ist weniger schmerzhaft. Autechre, Unterkiefer-runterklapp-Producer, auch jetzt wieder, nach 20 Jahren. Damit wir uns nicht gänzlich missverstehen, meinen Kendrick Lamar gib mir heute. Zweimal täglich. Ich verdamme das Musikverständnis der Jetztzeit nicht. Du sagst, das sei senile Bettflucht, mag sein, so sei es.

Thaddeus: Wir beide wurden auf bestimmte Art und Weise musikalisch sozialisiert und haben daraus unseren ganz persönlichen Kanon gebaut, ein Wertesystem, an dem wir Dinge messen. Das sind aber unsere eigenen Perspektiven, die man immer wieder in Frage stellen muss und nicht 1:1 auf andere Generationen übertragen kann. Ein Experiment für das nächste Mal: Du suchst deinen ersten Track, den du jemals produziert hast, raus, ich meinen und dann reden wir nochmal drüber. Zur Untermalung hören wir unsere 7"-Sammlung. Deal? Fein! Gibt es noch was zu Autechre zu sagen? Findest du eigentlich die Beats besser oder doch die Melodien?

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Martin: Ist das denn bei den beiden Jungs zu trennen? Eigentlich ist diese Musik der definitive Score zu all den SciFi-Movies, die mich geprägt haben, nur eben 20 Jahre zu spät. Ich wage jetzt mal diesen Sprung zurück in die Siebziger. „Montreal“ vom „Amber“-Album, was wäre das für ein völlig abgefahrener Soundtrack zu „Close Encounter Of The Third Kind“ von Steven Spielberg. Eine Sensation. Und natürlich gründlicher Mind-fuck.

Thaddeus: Du hast recht, ich ziehe die Frage zurück. Natürlich kann man das nicht wirklich trennen, und in Sachen Soundtracks kann ich nur zustimmen. Ich kam drauf, weil die Melodien ja nach „Chiastic Slide“ immer weniger greifbarer wurden und im Gesamtbild schließlich vollkommen weggedrückt und durch Sound ersetzt wurden. Da war ich dann irgendwann raus. Die Verweigerungshaltung, die ich vorhin schon erwähnte, die wurde mir dann einfach zu verweigernd.

Martin: Dennoch haben wir hier den seltenen Fall, dass das Publikum dem Künstler einfach alles abnimmt, was er so hinlegt. Ein beeindruckendes Phänomen, auch wenn wir beide da mit langen Gesichtern am Rande stehen. Vielleicht lässt es sich aber auch anders ausdrücken. Du hörst nur dann, wenn du hören willst.

Thaddeus: Total. Und so will es die Band ja auch. Zu einer späteren Platte der Band stand auf dem Infozettel nur ein Satz: „Autechre make music and do not want to talk about.“ Also, schweigen wir still.

Martin: Genau, die Sache wills.

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