Rewind: Klassiker, neu gehörtHeute: Artificial Intelligence II (Warp, 1994)

Artificial Intelligence II

Vor 20 Jahren erschien diese Compilation, die heute als einer der Meilensteine des damals noch relativ jungen Labels aus Sheffield gilt. Kein schneller, hyperaktiver Rave-Sound à la LFO, sondern ruhigere, vornehmlich ambiente Stücke. Das Gegengewicht zum Club, für viele somit aber auch der bessere, interessantere Dancefloor. Nach zwei Jahrzehnten hören wir die Compilation quer. Aus alter Verbundenheit aber auch mit klarem Auftrag: Wie viel Patina haben die Tracks mittlerweile angesetzt?

Higher Intelligence Agency - Selinite

Thaddeus Herrmann: 1994. Ich kann mich ja in der Regel nicht wirklich gut an die Vergangenheit erinnern, diese CD habe ich aber geliebt, das weiß ich noch. Nicht meine erste Berührung mit Warp, aber eine der wichtigsten. Und eine einschneidende Begegnung mit Elektronika für mich. Bei mir war erst das und dann Techno.

Martin Raabenstein: Ich habe über das Album im Flugzeug nach Irland gelesen. In der Face glaube ich. Das klang anders, frisch, spannend. Mir war der HipHop langsam über ...

Thaddeus Herrmann: Mit HipHop hatte ich noch viel weniger am Hut. Ich komme ja vom Pop. Britpop in dieser Phase, um genau zu sein. War aber wichtig, denn auf diesen Partys liefen auch immer die Tracks, die schon voll elektronisch produziert worden waren. Die Grenzen waren ja eh fließend.

Link - Arcadian (Remix)

Thaddeus Herrmann: Ah, jetzt kommen Link. Mark Pritchard und Tom Middleton. Global Communication war ja deren Hauptprojekt und hat mich auch sehr geprägt. Das geht heute auch noch. Muss heute auch noch gehen. Sehr zeitlos, sehr stylish. Ein Track in 1.000 Versionen. Mindestens. Mit Drum and Bass, ohne Drum and Bass, auf zig Labeln. Dagegen war der Track von eben, Higher Intelligence Agency, sehr fad. Angestaubt.

Martin Raabenstein: Kann ich nur zustimmen. Higher Intelligence Agency war schon damals nichts für mich. Diese langen Synth-Teppiche, darüber so ein zärtlich- gewisses Hibbeliges, da war die Tüte schon mit im Ohr eingebaut.

Thaddeus Herrmann: Kiffen ist ja eh ein gutes Stichwort. Sieht man ja auch im Artwork. Erst die Pille im Club, dann das Gras zu Hause. Diese wahnsinnigen Engländer. Ist doch toll, wenn man heute auf diese CD zurückblickt. Wie sich Warp entwickelt hat. Was das Label alles geprägt und begleitet hat. Ich habe übrigens durch Zufall vor einigen Jahren den Designer dieser Compilations in Sheffield kennen gelernt, Phil Wolstenholme. Netter Typ. Aber künstlerisch? Du kennst dich doch da aus. Das ging doch damals schon nicht, oder? Sieht ja auch aus wie diese ersten Rave-Videos von K7 auf Videokassette.

Ai Artwork 01

Insgesamt acht Alben veröffentlichte Warp zwischen 1992 und 1994 unter dem Stichwort Artificial Intelligence. Mit der hier vorgestellten Compilation endete die Serie. Zur Reihe gehören Alben von Aphex Twin, Richie Hawtin, Autechre und B12.

Wolstenholme

Designer Phil Wolstenholme (links) und Warp-Chef Steve Beckett, Sheffield, 2009. Foto: Thaddeus Herrmann

B12 - Scriptures

Martin Raabenstein: Ach, ich mochte das ja. Das waren wohl die letzten Momente, in denen ich Fernsehen noch kreativ fand. Auf MTV kamen damals ab und an noch die Videos von Warp, unter anderem auch das mit dem Franklin-Tracks, der diese Compilation hier eröffnet. Delphine in einem endlosen Tunnel. Ich habe die Kiste dann irgendwann mal nicht mehr angeschaltet und mir die VHS-Tapes von K7 geholt. Das machte mehr Sinn. Aber du willst über das Artwork lästern, über Eck sozusagen. Ne, du, so schlimm fand ich das echt nicht. Aber erklären Sie bitte selbst warum das zum Spucknapf verkommen ist.

Thaddeus Herrmann: Das kann ich leider nicht, verehrter Herr Raabenstein. Aber noch ein Wort zum Track. B12. LE-GEN-DÄR. Weil die Detroit immer mitgedacht haben und diesen ganz speziellen britischen Techno-Sound mitgeprägt haben, der immer so zwischen Melancholie und Dringlichkeit pendelte. Und jetzt kommt Autechre.

Autechre - Chatter

Thaddeus Herrmann: Bestimmt nicht ihr bester Tune, aber meine Helden auf alle Ewigkeiten. Aber der hier ist nicht sonderlich individuell.

Martin Raabenstein: Ja, das war dann wohl auch das eigentümlich Reizvolle daran, dieses Zurücktreten hinter einer Produktionsform, dieser freiwillige Gesichtsverlust zu Gunsten von ... ja, was eigentlich? Hatte das nur mit der Digitalisierung zu tun oder war das schon eine Änderung im Dialog Produzent/Konsument?

Thaddeus Herrmann: Das ist ja eine der Grundthesen von Techno allgemein. Die Musik vorne, der Produzent ganz weit weg. In diesem speziellen Fall hat es glaube ich eher etwas damit zu tun, dass die Tracks speziell für die Compilation ausgewählt wurden, damit ein Fluss daraus entsteht, der eben nicht den Dancefloor im Blick hat. Eher diese leicht modrigen Hinterzimmer, die - Achtung! - Chill out Lounges des Clubs. Brrr.

Ai 03
AI 04

Speedy J - Symmetry

Martin Raabenstein: Jaja, die gründliche Verachtung der eigenen Vergangenheit. Sehr eigenartig Herr Herrmann, das sind alles Begriffe, die so weit weg sind, das schüttelt mich gar nicht. Ich bin ja schließlich nicht der Einzige, der diese ganzen Chill Compilations gekauft und auch genossen hat. Das muss man jetzt nicht ganz so verteufelt darstellen, nur weil die Masse irgendwann mal die Klasse einge- und dann überholt hat.

Thaddeus Herrmann: Touché. Zu diesem Track jedoch fällt mir überraschend wenig ein. Bzw.: gar nichts. Warum eigentlich? Speedy J war doch ein Guter. Ist bestimmt immer noch ein Guter. Auch wenn ich seine aktuellen Releases eher langweilig finde. Jetzt aber.

Beaumont Hannant - Utuba

Thaddeus Herrmann: Noch so ein Held von mir. Komplett vergessen von der Welt, eine Schande. So großartige LPs hat der gemacht. Ungefähr zeitgleich mit dieser Compilation erschien zum Beispiel sein Album „Textured“. Prototypischer Rumpelpop.

Martin Raabenstein: Speedy J und Hannant mochte ich auf diesem Album am liebsten. Die gefielen mir dann aber nur ein, zwei weitere Jahre, dann war da für mich die Luft raus. Merkwürdig auch, dass wir das Ganze auf CD hören, ich könnte mir den Bauch am Kühlschrank wegschrubbeln irgendwann auf diese kleinen langweiligen Dinger gewechselt zu sein, was hätte ich gerne die Hälfte meiner Sammlung wieder auf Vinyl.

Thaddeus Herrmann: Geht mir ähnlich, aber: Das Warp-Vinyl von damals klingt einfach nicht sonderlich gut. Etwas kratzbürstig. CD ist auch gut.

Richard H. Kirk - Reality Net

Thaddeus Herrmann: Richard Kirk. Kann man gegen diesen Gentleman irgendetwas sagen? Immerhin war er bei Cabaret Voltaire. Habe ich zwar nie verstanden, fand ich aber immer gut. Und Kirks Solo-Alben fand ich zumindest immer interessant.

Martin Raabenstein: Ich mochte die Cabaret-Voltaire-Sachen sehr, ich komme ja - Gott sei Dank - auch nicht vom Pop. Hier ist aber auch wieder dieses Vereinheitlichende auffällig, ganz so als wären die ganzen Tracks zumindest von einem Producer. Dieser Kakadu auf Acid hat bestimmt einigen Drogisten mächtig die Hirnplatte durchstochen.

Thaddeus Herrmann: Und es hat ja auf etwas Dudeliges, etwas Heimorgeliges. Das kann ich mir bei Herrn Kirk zwar nicht so recht vorstellen, das geht nur mit der Brille von Jimi Tenor, aber vielleicht war das in Sheffield ja auch mal en vogue.

Balil - Parasight

Thaddeus Herrmann: Ah, Black Dog. Acid. Fällt raus. Zu schnell, zu offensichtlich trancig. Oder was meint der Dancefloor-Fachmann?

Martin Raabenstein: Arschlecken. Ich rasier mir doch nicht freiwillig die Klöten. Raus damit.

Seefeel - Spangle

Thaddeus Herrmann: Aber nun, zum Schluss, wird wieder alles besser. Seefeel. Ich kann leider nicht mehr weitertippen, ich muss niederknien.

Martin Raabenstein: Wieso, wegen des eingängigen Gitarrenriffs und der zweiten kongenialen Strophe, haha, ne, der hier geht für mich auch nicht, diese einfältige Snare macht meinen Gehörgängen mächtig Ärger. Und der Uhu erst, alles auf Vögeln hier oder was?

Thaddeus Herrmann: Ich höre nur Stahlgewitter mit Querflöte. Da steh ich drauf. Tut mir leid. Interessant finde ich auch die Platzierung des Tracks als Rausschmeißer. Das machte für mich damals in der Tat neue Türen auf. Seefeel waren ja vorher auf Too Pure, einem Indielabel aus England, das so langsam den Dreh zur Elektronik fand und z.B. das erste Album von Mouse on Mars veröffentlichte. Das war dann schon wieder eine neue Welt. Aber: Jeder Ton von Seefeel ist sensationell. Aber noch eine abschließende Frage: Welche Künstler fehlen dir, pardon, Ihnen denn auf dieser Compilation?

Martin Raabenstein: Ach so eine grandiose Deutungsmacht hätte ich auch gerne, einen Tropfen zum Regen zu erklären, das ist wahre Größe. Und fehlen tut mir hier nichts, es ist fast so wie damals, ich würde eher ein paar Herren entfernen.

Raabenstein und Herrmann werden bald wieder ein altes Album neu besprechen. Streitgespräche gibt es auf Das Filter auch zu aktuellen Platten.

45 Minuten polieren, polieren und polierenLeica zeigt den vielleicht längsten Werbespot aller Zeiten

Skymetric von Lino RussoHässlich plus blauer Himmel gleich schön