Rewind: Klassiker, neu gehörtFront 242 – Front By Front (1988)

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Wenn es um den stampfenden Maschinen-Beat der Prä-Techno-Ära geht, sind Front 242 ausgemachte Helden. Daniel Bressanutti und Dirk Bergen gründeten die Band 1981 in Belgien – als Patrick Codenys, Sänger Jean-Luc De Meyer und der MC Richard Jonckheere aka Richard 23 dazu stießen, rollte die EBM-Welle unaufhörlich auf Erfolgskurs. Diese „Electronic Body Music“ florierte nicht nur, aber vor allem in Belgien – auf einigen wenigen Labels wurden in den 1980er-Jahren die stilprägenden Platten ebenso stilprägender Bands veröffentlicht. 1988 – als „Front By Front“ erschien, war EBM schon global gelebte musikalische Ausdrucksform. Ein Sound, der aber auch Gefahr lief, vom Techno absorbiert zu werden. Dem Sound aus Detroit hatten Front 242, Skinny Puppy, à;GRUMH... und Nitzer Ebb nur wenig bzw. das Falsche entgegen zu setzen. Die Szenen begannen zu verschmelzen und sich abzulösen. 1988 hingegen gingen Front 242 noch steil: Mit ihrem vierten Album legten die Belgier einen Sound-Entwurf vor, der in der Vergangenheit, der Gegenwart und der versprochenen Zukunft verankert war. Straffe Beats, erstaunliches Songwriting und immer noch ein Händchen für Sampling retteten dieses Album problemlos über die Ziellinie des guten Geschmacks all derer, die die Revolution des 4/4-Geschäfts noch nicht wahrhaben wollten. Und heute? 30 Jahre später ziehen Martin Raabenstein und Thaddeus Herrmann ihre Tarnwesten über, werfen ihre Netze aus und suchen nach dem „Headhunter“ genau dieses guten Geschmacks.

Martin Raabenstein: Sieht man von den deutschen Projekten D.A.F, Einstürzende Neubauten und Die Krupps Anfang der Achtziger mal ab, hat Kontinentaleuropa Mitte dieses Jahrzehntes nur noch wenig auf der elektronischen Pfanne. Front 242 waren die Letzten, die noch erfolgreich und innovativ den von Ralf Hütter geprägten Terminus Electronic Body Music hoch über ihren Köpfen schwenkten. Mit dem Track „Headhunter“ von „Front By Front“ turnten die Belgier sogar in den US Billboard Charts ziemlich weit oben. Wie erklärt sich dieses Alleinstellungsphänomen?

Thaddeus Herrmann: Dem stimme ich schon mal überhaupt nicht zu. Die „elektronische Pfanne“ brutzelte – um mal im Bild zu bleiben – heftigst. Die letzten waren sie also sicher nicht. Aber das gesamte Genre der EBM war zu diesem Zeitpunkt, also 1988, dabei sich zu wandeln. Front 242 waren zu diesem Zeitpunkt ja schon lange aktiv und schwammen im Strom der belgischen Bands und Projekte mit, waren dabei aber wahrscheinlich die Erfolgreichsten. Ich finde das Album interessant, weil es diesen Umbruch in ihrem Sound so explizit herausstellt. Tracks wie „Headhunter“ oder „Circling Overland“ sind ganz klassisch 242 – „Headhunter“ dazu noch der vielleicht größte Hit der Gruppe, was nicht zuletzt auch auf das Eier-Video von Anton Corbijn zurückzuführen ist. Gleichzeitig hört man hier aber zum ersten Mal wirklich den Techno heraus. Da spielt der New-Beat-Einfluss mit rein. Hier vermischten sich Szenen. Es wurde also technoider. Und das – ganz ehrlich – fand ich immer schwierig. Weil es zumindest auf Platte für mich nicht so recht funktionierte. Ganz anders als live. Warum ging „Headhunter“ nun so durch die Decke? Erstens: guter Song. Zweitens: Die Band hat sich das ja auch erpinselt – mit Tracks wie „Quite Unusual“ oder „Masterhit“ im Jahr davor und endloses Touren.

„Headhunter“ – 1988

„Quite Unusual“ – 1986

„Masterhit“ – 1987

Martin: Da bist du nun der Connaisseur. Parellel dazu bauten deine Meisterbuben Depeche Mode und New Order durchaus an ähnlichen Strukturen. Die Briten allerdings, wenn man mal jetzt unverschämterweise den frühen Fad Gadget ganz aus der Geschichte rauslässt, haben immer diesen Drang zum – ich weiß auch nicht so genau was – möchte aber zum weichen Pop sagen. Irgendwann in deren Tracks wandte sich das Blatt grundsätzlich zu einem sanften Gegenentwurf im Stück. Diese zwei Seiten der Medaille setzen 242 nicht ein, bleiben unerbittlich. 4/4 ist also nicht die treibende Kraft hinter der Unbedingtheit, was mag es wohl dann sein?

Thaddeus: Gute Punkte, die jedoch auf der Hand liegen – die Produktionsmittel sind zwar ähnlich, die Szenen aber nicht vergleichbar. Eine kleine Reinschmeißer-Anekdote zu Beginn: Das erste Mal habe ich Front 242 live im Vorprogramm von Depeche Mode gesehen, am 9. November 1987 in der Berliner Deutschlandhalle. Da schließt sich also der erste Kreis, nicht nur, weil ich in der ersten Reihe stand. Der zweite – und hier würde mich deine Meinung interessieren – ist, dass ich auf diesem Album hier, gerade bei den ruhigeren Tracks – durchaus Parallelen im Gesang zwischen Frank Tovey aka Fad Gadget und Jean-Luc De Meyer von Front 242 erkenne. Aber um deinen Faden aufzugreifen: Natürlich basiert die Musik von 242 auf einem ganz anderen Koordinatensystem, funktioniert also auch anders. Hier arbeitet eine andere Tradition, die diese Dringlichkeit erklärt. Und sich auch in den Visuals, dem Bühnen-Design und der Kluft widerspiegelt, die die Jungs auf der Bühne trugen. Hier wurde mit militärischen Metaphern kokettiert. Das hatten die Briten, die du anführst, alle nicht im Programm.

Martin: Bryan Ferry, Mitte der Siebziger? Und dann auch immer wieder gerne nochmal?

Thaddeus: Den hattest du oben nicht erwähnt, also bitte. Und außerdem will ich Bilder sehen. Ich kann mir sein Outfit aber auch so gut vorstellen. Ferry als gut situierter Offizier, der im Clubhaus in fernen Ländern an einem Gin and Tonic nippt. Front 242 verkörpern da doch eher den breitbeinigen Söldner-Style.

Martin: Hör auf mich – glaube mir – Lieblingsspruch der Schlange Kaa. Das war nur eine kleine Umleitung, um Spuren zu verwischen. Klamotte und Rhythmus zitieren auch andere Helden der Siebziger, in diesem Fall Kraftwerk und deren 78er „Mensch Maschine“, der Hütter erneut. Damals hat das nicht wirklich viele auf den Baum gejagt, so wie das heute der Fall wäre. Die Assoziations- und Spielfelder, derer man sich bediente, waren offener, weiter gesteckt. Aber zurück zum Album, was meinst du mit anderem Koordinatensystem?

„Front 242 waren 20 dB lauter und 35 BPM schneller als die Popper aus UK.“

Thaddeus: Ich glaube dir, vertraue dir aber nicht, um bei Kaa zu bleiben. Kraftwerk trugen Designer-Anzüge und spielten mit kyrillischer Typo. Da sehe ich keine militärischen Parameter. Dann schon eher – um in UK zu bleiben – bei Throbbing Gristle und dieser ganzen Bande von Industrial Records. Die eher widerlichen Beispiele, die wie ein Kropf da dran hingen, verschweige ich lieber. Woher diese Tradition aber nun wirklich kommt kann ich auch nicht beantworten. Da müssten wir flugs einen Camouflage-Experten bemühen. Ich gehe das also musikalisch an. Front 242 waren 20 dB lauter und 35 BPM schneller als die Popper aus UK. Allein das beschleunigt schon einen anderen Habitus. Den sich die Mitglieder der Band ja auch selbst ausgedacht und sich sozusagen herangezogen haben.

„Wenn du Fleischkappen tragende Schläger auf der Straße hast und eine semifaschistische Regierung wie unter Thatcher, kommt ein Track wie „We Don't Need This Fascist Groove Thang“ von Heaven 17 zustande.“

Martin: Ich bin deine Lieblingsschlange. Keiner kommt dir so nahe, umgarnt, aber verschlingt dich nicht. Die militärische Tradition in UK, und da hast du völlig recht, kam nicht direkt vom groomenden, in seiner Grandezza sich smart umtänzelnden Ferry. Das basiert auf der Skinhead-Szene. Wenn du Fleischkappen tragende Schläger auf der Straße hast und eine semifaschistische Regierung wie unter Thatcher, kommt ein Track wie „We Don't Need This Fascist Groove Thang“ von Heaven 17 zustande. Die logisch zwingende Opposition in Upper-Class-Anzügen. Musikhistorisch sind wir da aber schon eine halbe Generation weiter, die End-Achtziger wollten wieder mehr Spaß haben. Hinfort mit den Dresscode-Bedenken, auf zum 4/4-Gleichschritt.

Thaddeus: Und genau den haben 242 nie so richtig beherrscht, oder dann doch nur ziemlich stumpf. Dieses Stichwort mag komisch daherkommen im 4/4-Kontext, aber es gibt eben Groove und Groove. Man hört das ja auf dem Album ganz deutlich. „Im Rhythmus Bleiben“ oder „First In/First Out“, das sind ganz konkrete Auseinandersetzungen mit House und Techno. Nur konnten die Herren dann doch nicht aus ihrer Haut und haben vielmehr versucht, diese Elemente in ihr eher einfach gestricktes Sound-Verständnis – oder besser Rhythmus-Verständnis – einzubauen und die dazugehörigen Samples drauf zu kippen. Das war eine durchaus populäre Herangehensweise, die in Teilen von Deutschland auch heftigst gefeiert und erweitert wurde. Aber das war letztendlich eine ziemlich hermetische Szene, die nicht lange relevant war. Die Rhythmus-Sektion von 242 bekommt von mir diesbezüglich Abzüge. Mit dem Funk hatten es die Jungs nicht so. Ausnahmen bestätigen die Regel.

242 -1
242-2

„Bewusst oder nicht, hier wird der regierende zum dienenden Musiker.“

Martin: Der 4/4-Gleichschritt stellt für mich einen schleichend einhergehenden Wertewandel dar. Natürlich konntest du in den Siebzigern auch schon stundenlang Disko 7"s hintereinander spielen, um den Flow zu halten. Irgendwann aber muss sich das Tool in die DJ-Geschichte eingeschlichen haben, das reduzierte, nutzbare Element zum kilometerlangen, stundentragenden Set. Ich denke, dass dies genau zu dieser Zeit passierte – weg vom individuell angedachten, identifizierbaren Track, hin zum integrativen, sich in ein mögliches Set einschmiegendes „Stück“ Musik. Nimm irgendeinen New-Order-Track aus dieser Zeit, den baust du nicht in eine treibende, ununterbrochene Dance-Autobahn ein. Das ist noch altüberkommene Schnellstraße. Takes aus „Front By Front“ bedienen dies sehr wohl. Bewusst oder nicht, hier wird der regierende zum dienenden Musiker.

Thaddeus: New Order und alle anderen in dieser Preisklasse haben zur dieser Zeit noch eher klassische Songs aufgenommen. Da hast du vollkommen recht. Sich aber gleichzeitig auch immer remixen lassen, um genau in dieser Szene auch stattzufinden. Das ist ja ein bekanntes Prinzip, bei New Order aber natürlich besonders wichtig und offensichtlich. Immerhin hingen sie in der Haçienda mit drin – gut, bezahlten sie – und waren in der Dance-Szene verwurzelt. Ich stimme dir zu, dass sich die Tracks auf „Front By Front“, die ich oben bereits erwähnt habe, genau in diese Kategorie fallen: Dancefloor. Und natürlich findet hier eine Auseinandersetzung mit dieser Strömung statt. Das ist auch keine große Überraschung, denn die Elemente sind ja durchaus vergleichbar, oder anders gesagt: Es gibt eine deutliche Schnittmenge. Gerade Beats und das Repetitive. Hier suchen Musiker Anschluss an etwas Neues, kennen sich damit aber nicht so richtig aus. Auch das ist überhaupt nicht schlimm. Aber: Mit neuen Strömungen zu experimentieren heißt noch lange nicht, das Zepter aus der Hand zu legen und sich in der Produktion fortan nur noch dem fünfstündigen DJ-Set unterzuordnen. Die Grenze zwischen Song und Track – um mal diese beiden ohnehin unscharfen Begriffe zu bemühen – war bei Front 242 schon immer unscharf. Alle Platten funktionieren in beide Richtungen. Dass sie hier nun plötzlich an einer Stelle die mit Abstand schlechteste Einstellung der 909-Snare mit in einen Track einbauen, macht daraus noch nicht kategorisch DJ-Futter.

Front 242 - Porträt

Martin: Ok, ich lege noch eins oben drauf. „You can't have the cake and eat it too“, jeder 15-Jährige kann heute aus einer David-Guetta-Arschkrampe einen echten, guten Hit bauen. Das ist dann nicht mehr eine Frage unserer immer wieder gerne umschifften Problemzone Authentizitismus, hier geht es um Integrität. Die gesamte Elektronikszene der Briten Ende der Achtziger scheidet sich ja nicht umsonst in diejenigen, die aus ihrer Drum Machine den Heiligenschein strahlen lassen, ich habe kein Problem damit, auch das muss gekonnt sein – und denen, die neue Wege suchen. Das endet dann entweder bei Acid, oder führt intelligenter Weise zu den Anfängen von Warp. Gegebenenfalls war die Trennung von Sofa und Club genau hier, genau 1988 so offensichtlich, dass es das Genre der Elektronik diametral auseinander trieb. Ist diese Trennung systemimmanent oder ein ungelenkter, kreativer Spielball?

Thaddeus: Jede Bewegung erzeugt auch immer eine Gegenbewegung. Oder bedient sich nur ein paar weniger Elemente und setzt daraus etwas Neues zusammen. Das ist doch klar. Ich bin noch nicht so ganz davon überzeugt von dem, was hier bei dir mitschwingt. Dass Front 242 bei der Bewegung in Richtung Dancefloor eine Art Vorreiterrolle einnahmen. Die kamen aus dem trackigen Business und haben dieses Prinzip angepasst. Aber haben gleichzeitig auch nichts wirklich hinter sich gelassen. Eher das Konstrukt einmal durchgelüftet oder in Teilen neu angemalt. Denn auch das ist wichtig: Die ganz konkreten Anknüpfungspunkte an das, was Techno war oder gerade wurde, sind hier noch rar gesät.

Martin: Zum Thema Anmalen: „Blend The Strength“ ist doch kräftig mit „Rock It“ durchsaftet, der arme Herbie. Wir hatten das jetzt schon öfters, natürlich bedienen sich alle aus demselben Malkasten. Vermutlich sind Front 242 genau aus diesem Grund nur ein seitlicher Missing Link in der Geschichte des Techno. Ich mag das heute noch sehr wohl, aber spielen – eher nicht. Das ist gradbeatiger Industrial, meinst du nicht?

Thaddeus: Nein. Beziehungsweise: Es ist deutlich komplizierter. Front 242 hat mit Techno rein gar nichts zu tun. Und immer dann, wenn ich weiter oben schrieb, die Band hat hier Dinge ausprobiert, aber irgendwie nicht hinbekommen, will ich auf diesen Punkt raus. Das ist keine Generationsfrage, sondern hat eher mit der Haltung zu tun. In den USA wurden Front natürlich auch als Industrial wahrgenommen, aber die Amerikaner haben Industrial ja sowieso immer falsch verstanden – als Industrial-Rock, was immer das sein soll. Mit Ministry und Konsorten. In dieser Liga fühlte sich Front 242 viel wohler, glaube ich. Immerhin hat Richard 23, der „MC“ von Front, ja auch die Revolting Cocks mit gegründet – zusammen mit Al Jourgensen von Ministry. Das war vertrautes Terrain mit zugegeben vielen Anschlussmöglichkeiten. Aber Techno war das nie. Und Industrial waren Front 242 auch nie.

Martin: Du sprichst von diesem einen bestimmten Typ, der zwar nie eingeladen ist, aber dennoch auf jedem Floor rumsteht?

Thaddeus: Genau. Konkret mit dem „Headhunter“. Und mit dem habe ich jetzt noch einen Termin.

Martin: Okay. Über die Missverständnisse der Amerikaner unterhalten wir uns dann mal später.

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